Inside Nintendo 77: Der Virtual Boy – die Story hinter Nintendos größtem Flop (Teil 1)

Die zweifelhafte Auszeichnung für die erfolgloseste Nintendo-Konsole geht nicht an die Wii U – sondern an eine Konsole, die so ungewöhnlich, so undurchdacht und so kurzlebig war, dass sie glatt einfach übersehen wird: der Virtual Boy. Das Gerät von Game-Boy-Schöpfer Gunpei Yokoi rühmte sich 1995 als erste Konsole mit 3D-Effekt, avancierte aber zu einem berühmt-berüchtigten übelkeitsinduzierenden Misserfolg. Für euch enthüllen wir nun, wie der Virtual Boy von der futuristischen Virtual-Reality-Brille zum skurrilen Handheld-Tabletop-Mischling degradiert wurde, warum er tatsächlich am Markt scheiterte, und welche Auswirkungen das auf Nintendo hatte.

Weil der Autor dieser Zeilen unfähig oder unwillig ist, sich kurz zu fassen, ist unsere Reportage wieder einmal in zwei Teile aufgetrennt. Im vorliegenden ersten Teil geht es um die interessante Entwicklungsgeschichte hinter dem Virtual Boy: Warum ist das Gerät so, wie es ist? Woher stammt die verbaute 3D-Technik? Und wusstet ihr, dass die Konsole ursprünglich nicht ganz unähnlich den heutigen VR-Systemen sein sollte?

In vielerlei Hinsicht echt kurios: Der Virtual Boy (Bildquelle)

Vor 25 Jahren: Die Welt im VR-Fieber

Der Traum der Virtuellen Realität (VR) ist dank Oculus Rift und Project Morpheus heute in greifbarer Nähe. Anfang der 1990er Jahre hingegen war VR noch Zukunftsmusik – und ein ganz großer Hype. In den Laboren der großen Videospielunternehmen brodelte es darum weltweit. Sega etwa kündigte 1991 für sein Mega Drive einen VR-Helm an, der aber nie auf den Markt kam. Auch Nintendo spielte mit: Ein eigenes Team, zu dem auch der Stardesigner Shigeru Miyamoto zählte, behielt den VR-Trend im Auge und überlegte, ob und wie man das Konzept in eine eigene Konsole einbauen könnte.

1991 begann schließlich Nintendos R&D1-Team unter der Federführung von Gunpei Yokoi die Entwicklung einer VR-Konsole. Yokoi arbeitete bereits seit 1965 bei Nintendo und hatte erst zwei Jahre zuvor den Game Boy hervorgebracht. Was er und sein damals etwa 60-köpfiges Team anrührten, wurde normalerweise zu Gold.

Ein Bild ins Auge drucken

Doch um die ganze Geschichte hinter der Entstehung des Virtual Boy zu erfassen, müssen wir noch ein paar Jahre zurückgehen. Im Jahre 1985 nämlich kam der amerikanische Ingenieur Allen Becker auf eine geniale Idee. Er dachte sich eine Technologie für günstige portable Bildschirme aus – „Laptops“ wogen damals noch einige Kilogramm und hatten winzige, grobe Displays. Beckers Idee war nun, eine einzelne Reihe mit winzigen LEDs zu verwenden, deren sich blitzschnell ändernde Anzeige mithilfe eines vibrierenden Spiegels ein zweidimensionales Bild ins Auge des Betrachters projizieren sollte. Man kann sich das Prinzip ähnlich vorstellen wie bei einem Drucker – nur viel schneller.

Dadurch ließ sich auf kleinstem Raum und mit maximaler Effizienz ein größeres Display simulieren. Dieses System taufte Becker auf die Bezeichnung „Scanned Linear Array“ (SLA). Er gründete 1986 in Massachusetts das Unternehmen Reflection Technologies, das diese revolutionäre Idee in die Tat umsetzte. Das Resultat war ein winzige Gerät namens Private Eye. Durch eine kleine Öffnung konnte man tatsächlich relativ hochauflösende und hochwertige Bilder wahrnehmen – allerdings bloß in rot auf schwarzem Hintergrund, weil rote LEDs besonders günstig und stromsparend waren. Nun musste Reflection diesen Durchbruch „nur“ noch an den Mann bringen. Die Unternehmen, denen Reflection sein Private Eye vorstellte, reagierten zwar allesamt interessiert und begeistert, konnten jedoch mit der Technik letztlich nichts anfangen.

Ein früher Prototyp zu Reflections Private Eye – die früheste Inkarnation des Virtual Boy, wenn man so will. (Bildquelle)

Nintendo schnappt zu

Im Rahmen des VR-Hypes baute Reflection 1990 die Technologie weiter aus. Es entstand eine Art Brille mit zwei SLA-Displays, für jedes Auge eines. Ein angeschlossener Computer berechnete für jedes Display ein perspektivisch leicht versetztes Bild, wodurch im Kopf des Betrachters der Eindruck von Dreidimensionalität entstand. Reflections Gerätschaft unterstützte sogar Head-Tracking, und zu Vorführzwecken programmierte das Unternehmen eine Videospiel-Demo für diesen Aufbau.

Reflection hatte eine einfache und günstige Virtual-Reality-Brille erschaffen. Diese bahnbrechende Erfindung stellte das Unternehmen aus Massachusetts einigen großen Konzernen vor, darunter Mattel, Hasbro, Sega, doch keiner davon sagte zu. Erst 1991 gelang Reflection der große Coup, und zwar bei Nintendo: Gunpei Yokoi und Hiroshi Yamauchi waren überzeugt von der Technik, sahen wirkliches Potenzial darin und krempelten auch tatsächlich ihre Ärmel hoch.

Yamauchi betraute Yokoi und dessen Foschungs- und Entwicklungs-Abteilung damit, eine neue Konsole auf Reflections Technologie basierend zu erarbeiten. Für zehn Millionen Dollar sicherte sich der damalige Videospiel-Marktführer die weltweiten Exklusivrechte für die SLA-Technologie und erwarb einen kleinen Teil der Reflection-Aktien. Das amerikanische Start-Up indes erwartete von der Kollaboration seinen großen Durchbruch.

Wie geschaffen für den Querdenker-Tüftler Yokoi

Für Yokoi kam das Projekt wie gerufen. Denn der geniale Tüftler nutzte bevorzugt etablierte und günstige Technik für revolutionäre neue Ideen. Das Technikwettrüsten der Videospielindustrie war ihm zuwider geworden; er sah die Branche auf ihr Ende zurasen, sollte sich der Trend ungehindert fortsetzen. Das mag Yokoi unterstützt haben bei der Entscheidung, eine wenig leistungsstarke aber völlig neuartige Konsole zu entwickeln. Sein Denken ist übrigens auch der Grund dafür, dass Nintendo Jahre später mit DS und Wii das Wettrüsten aufgab und ganz neue Zielgruppen erschloss.

Im Videospielmarkt gibt es immer eine einfache Lösung, wenn man keine guten Ideen hat. Das ist, was die auf Rechenleistung und Grafik konzentrierte Konkurrenz macht. Aber dann würde es keine Unternehmen wie Nintendo mehr geben, die sich auf die Spiele an sich fokussieren. Irgendwann würden jene gewinnen, die gut mit Grafik umgehen können, während für Nintendo kein Platz mehr übrig bliebe. Darum habe ich den Virtual Boy erschaffen – ich wollte etwas kreieren, das uns zurückbringt zu dem, was Videospiele ausmacht.

Der rundum gelungene Controller des Virtual Boy ist eindeutig der beste Aspekt der Konsole. (Bildquelle)

Virtuelle Realität in Rot-Schwarz

Doch zurück zum Virtual Boy. Der Arbeitstitel der Konsole, VR32, deutete bereits an, dass es sich um Nintendos erste 32-Bit-Plattform handelte. Nicht ganz so fortschrittlich wirkten die Farbkapazitäten: Lediglich Schwarz sowie drei Rottöne sind darstellbar, nicht unähnlich dem Game Boy. Bereits dieser hat sich seinerzeit heftige Kritik wegen seiner monochromen Bildausgabe gefallen lassen müssen. Darum experimentierte R&D1 natürlich mit einem Farbdisplay für VR32, doch weil andersfarbige LEDs damals noch viel mehr kosteten, wäre das Gerät viel zu teuer geworden.

Ein LCD-Bildschirm war ebenfalls keine Option, da ein solcher keine absolute Schwärze erreicht, welche jedoch wegen der angestrebten vollständigen Immersion unabdingbar war. Bei frühen Experimenten mit einem Farb-LCD-Display musste das VR32-Team zudem feststellen, dass der Tiefeneffekt dabei zerstört wird und stattdessen ein Doppelbild zu sehen war. Gunpei Yokoi fiel es im Nachhinein nicht schwer, das monochrome Display seines neuen Werks zu verteidigen:

Farbige Grafiken erwecken den Eindruck, dass ein Spiel High-Tech ist. Doch bloß weil eine Konsole einen schönen Bildschirm hat, heißt es nicht, dass sie Spaß bereitet.

Typisches Brummen und tadelloser Controller

Reflections SLA-Technologie reduzierte Kosten und Größe des Geräts beträchtlich, indem sie eine Bildschirmauflösung von 384x224 Pixeln mit lediglich zwei 1x224-„Displays“ erzeugt. Aufgrund der dazu eingesetzten oszillierenden Spiegel entsteht das charakteristische Brummen des Virtual Boy, außerdem ist die Konsole deswegen sehr anfällig gegen Stöße. Mit der Massenproduktion der Displays verpflichtete Nintendo das Elektronikunternehmen Mitsumi, das bereits die NES- und SNES-Controller herstellte.

Ein Lautsprecher pro Ohr sorgt beim Virtual Boy für die Geräuschuntermalung. Der Controller indes erwies sich mit seiner M-Form und den zwei Steuerkreuzen als sehr solide. Hier werden auch die sechs AA-Batterien eingesetzt, mit denen die Konsole rund sieben Stunden lang läuft.


Screenshot aus dem Virtual-Boy-Spiel „Mario Clash“. Trotz Farbmangel und niedriger Auflösung: Der 3D-Effekt funktioniert und ist gar nicht mal so misslungen, wie man annehmen mag.

Eine Computerbrille ist zu gefährlich!

VR32 war ursprünglich geplant als ein am Körper getragener Computer in der Form einer Brille – so wie man sich VR klassischerweise vorstellt, wie der Prototyp von Reflection es vorsah und wie es auch heute realisiert wird. Warum also entschied sich Nintendo letztendlich dagegen?

Die Technik-Komponenten des Geräts, die sich immerhin direkt am Gesicht befinden, erzeugen eine hohe elektromagnetische Strahlung. Die Wirkung dieser Strahlung auf das Gehirn war damals schlechter erforscht als heute, weshalb Nintendo lieber auf Nummer Sicher gehen wollte. Außerdem störten die austretenden Radiowellen die Displays. Deswegen mussten CPU und Co. mit einer Metallplatte abgeschirmt werden. Dadurch wurde das Gerät jedoch so schwer, dass man es nicht mehr wie eine Brille tragen konnte.

VR32 vor dem Aus?

An dieser Stelle geriet die Entwicklung von VR32 ins Stocken. Gerüchten zufolge soll sogar eine Einstellung des Projekts in Betracht gezogen worden sein. Doch angeblich wollte das Nintendo-Management Yokois eine neue Konsole möglichst schnell auf den Markt bringen, um die Wartezeit bis zur Veröffentlichung des N64 zu überbrücken. Immerhin hatten Sega und Sony bereits 1994 ihre neuen Konsolen herausgebracht, während das N64 erst 1996 erscheinen würde. Nintendo brauchte eine neue Konsole, deswegen trieb es Yokois Projekt weiter voran. Später wird der Tüftler zitiert, er sei mit der finalen Form des Virtual Boy gar nicht zufrieden gewesen.

Da VR32 nun zu schwer für eine Computerbrille war, sollte das Gerät in seiner nächsten Inkarnation auf den Schultern befestigt werden. So konnte die Konsole mehr wiegen und trotzdem noch ein sogenanntes Wearable-Gerät sein. Doch auch diese Idee hielt der Sicherheitsprobe nicht stand: Was, wenn man stürzt oder anderweitig verunglückt, während das Gerät vor dem Gesicht befestigt ist? Die Vorstellung des Verletzungsrisikos war für Nintendo und Reflection unerträglich und unverantwortlich. Darum hieß es: Zurück zum Reißbrett.


Natürlich kann man's auch so machen wie der Angry Video Game Nerd in seiner Video-Begutachtung des Virtual Boy und dessen Spielerepertoire.

Die Konsole der 1000 Kompromisse

Den Wearable-Aspekt konnte das Team nicht mit garantierter Sicherheit verknüpfen, sodass der Virtual Boy seine finale Form erhielt: Ein Tabletop-Gerät, das auf einen Tisch gestellt wird und in das man sitzend hineinsieht. Wirklich mobil war die Konsole damit und mit ihrem Gewicht von 760 Gramm nicht mehr, zudem ist die zum Spielen erforderliche Haltung alles andere als bequem. So war VR32 nun also zu einem undefinierbaren und undurchdacht wirkenden Mittelding zwischen Handheld und stationärer Konsole verkommen.

Außerdem ließ Nintendo aus Kostengründen und wegen des verstärkten Phänomens der Motion-Sickness das geplante Head-Tracking des VR32 fallen. Kein Wearable und kein Head-Tracking: Damit war die als VR-Plattform angepriesene Konsole genau das nicht mehr. Immerhin gab's noch den gelungenen stereoskopischen 3D-Effekt.

Rot-Schwarze Drahtmodelle versus Fotorealismus

Nun hätte R&D1 die schwächliche Technik des Virtual Boy aufrüsten können, denn als Tabletop-Gerät spielten Größe und Gewicht keine große Rolle mehr. Doch dazu war es bereits zu spät, die Produktionsmaschinerie war bereits in Gang gesetzt worden. Dummerweise waren aufgrund der schwachen Hardware jedoch kaum neue Spielkonzepte möglich. Entweder rendert der Virtual Boy klassische 2D-Grafiken, bei denen eben manche Sprites weiter vorne zu sein scheinen als andere, oder grobe und texturlose Wireframe-Modelle.

Mithilfe von Wireframes konnte der Virtual Boy tatsächlich dreidimensionale Virtuelle Welten erschaffen. Allerdings war diese Optik derart krude, dass selbst die ersten polygonalen SNES-Spiele im Vergleich dazu wie Grafikmonster aussahen. Das entsprach so gar nicht den Erwartungen der Videospielbranche. Und immerhin entstand zugleich bei einer anderen Nintendo-Abteilung eine weitere neue Konsole, die 3D-Welten erzeugen konnte – zwar nicht mit einem hübschen stereoskopischen 3D-Effekt, dafür aber mit der Rechenleistung eines Supercomputers.

Dem erfolgversprechenden N64 waren die meisten finanziellen und personellen Ressourcen innerhalb von Nintendo verheißen, während der Virtual Boy quasi nur als Nebenprojekt vagabundierte. Außerdem war Miyamoto voll und ganz mit dem N64 beschäftigt und hatte beim VR32-Projekt seine Hände nicht mit im Spiel. Selbst R&D1 und Gunpei Yokoi wurden immer skeptischer angesichts ihres eigenen Projekts. Nach außen hin zeigte das Team seine Angst jedoch nicht, sodass Reflection davon nichts mitbekam.


Das Shoot-'em-Up „Red Alarm“ war eines der wenigen Virtual-Boy-Spiele mit dreidimensionalen Spielwelten, was leider mit unübersichtlichen Wireframes gleichzusetzen ist. Aber zugleich handelt es sich um eines der besten Spiele für die 3D-Konsole.

Was hielt die Fachpresse vom Virtual Boy, als dieser endlich enthüllt wurde? Wie schlägt sich die Konsole schließlich auf dem Markt? Warum ist sie gefloppt, mit welchen Folgen, und was sagt Nintendo dazu? Das alles ist Thema des zweiten Teils unserer großen „Virtual Boy“-Reportage in zwei Wochen!

Quellen: Benj Edwards: Unraveling The Enigma Of Nintendo's Virtual Boy, 20 Years Later, Fast Company, 21. August 2015; Osamu Inoue: Nintendo Magic, 2010, S. 139–142; Iwata fragt: Nintendo 3DS, Teil 1: So ist der Nintendo 3DS entstanden
, Teil 2 und 3; Steve L. Kent: The Ultimate History of Video Games, 2001, S. 513–515, 518 f. Außerdem empfehlen wir die Website Planet Virtual Boy, deren ausführliche Info-Datenbank ebenfalls während der Entstehung dieses Berichtes zurate gezogen wurde.


In unserer jeden zweiten Sonntag erscheinenden Rubrik „Inside Nintendo“ berichten wir über die Geschichten hinter Spielen, Serien, Konsolen, Studios und Personen rund um Nintendo. Eine Übersicht aller bislang veröffentlichten Ausgaben ist unter diesem Link zu finden.

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Bisher gibt es sechs Kommentare

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  • Avatar von TT_B
    TT_B 19.10.2015, 17:55
    Wie wäre es mit VB VC?!
    Natürlich kann man den roten Ton abschalten.
    Die Preise wären dann ja auch ziemlich günstig (1,99€).
    Wario Land möchte ich aufjedenfall nochmal zocken!
  • Avatar von Demon
    Demon 19.10.2015, 17:50
    Wario Land für den Virtual Boy war eigentlich recht cool. Schade haben sie nicht sowas wie ein Remake draus gemacht.
  • Avatar von Anonym_220427
    Anonym_220427 19.10.2015, 12:17
    Ich hab nen defekten Virtual Boy zuhause. Ich fand ihn damals klasse..
  • Avatar von Minato
    Minato 18.10.2015, 16:18
    Kann den nächsten Teil kaum abwarten!
  • Avatar von pikeEye
    pikeEye 18.10.2015, 14:27
    Echt interessant, vielen Dank.
  • Avatar von virus34
    virus34 18.10.2015, 10:26
    Dickes DANKE wieder einmal für den tollen interessanten Bericht! Freue mich immer riesig wenn ich diese lesen darf.