„Phoenix“ von Leonard Herman ist das allererste Buch über die Geschichte der Videospielindustrie – und zugleich ist es das aktuellste. Ursprünglich Ende 1994 mit dem Untertitel „The Rise & Fall of Videogames“ erschienen und mit Schwerpunkt auf dem Video Game Crash in den 1980er Jahren, ist im November 2016 die vierte Auflage auf den Markt gekommen. Mit über 850 Seiten dürfte es sich dabei außerdem um das wohl längste Buch seiner Art handeln. Bleibt nur noch die Frage: Ist „Phoenix IV: The History of the Videogame Industry“ denn auch das beste Buch über Videospielgeschichte?
Ein beeindruckendes Werk
Bereits vor über 30 Jahren begann Herman die Arbeit an seinem Epos, das inzwischen zum umfangreichsten Buch über Videospielgeschichte geworden ist. Der Autor geht dabei chronologisch vor und widmet jedem Jahr seit den 1970er Jahren ein eigenes Kapitel; die früheren Urzeiten der Videospiele werden in einem übergreifenden ersten Kapitel behandelt. Bis ins Jahr 2016 hat Herman die Annalen der Spieleindustrie fortgeschrieben – damit war die vierte Auflage zu ihrer Veröffentlichung für eine Printpublikation ihres Kalibers wirklich brandaktuell.
Hinzu kommen ein Kapitel über die Geschichte von „Tetris“, eine längere Einleitung des Verfassers über die Entstehung des Buches sowie zwei Vorworte von Videospielejournalist und Buchautor Chris Kohler sowie Atari-Veteran Ted Dabney, der im Mai 2018 leider verstorben ist. Abgerundet wird das Ganze durch seitenlange Anmerkungen – die unpraktischerweise gesammelt am Buchende untergebracht wurden –, ein lobenswert ausführliches und damit für die Arbeit mit dem Buch hilfreiches Stichwort- sowie ein Abbildungs- und ein Literaturverzeichnis.
Enzyklopädie der Spielekonsolen
Mit seinem Werk legt Herman eine Art Enzyklopädie der Videospielgeschichte vor – das hat Vor- und Nachteile. Die Spielebranche kommt in ihrer gesamten Bandbreite zur Geltung, es werden also nicht nur die bekannten Vorzeigekonsolen behandelt, sondern praktisch alle Spielegerätschaften, die auf den Markt kamen. Abgesehen von den unzähligen Pong-Klonen der 1970er Jahre, über die niemand einen Überblick haben kann, wird jede noch so obskure Konsole in gebührendem Ausmaße gewürdigt, wobei leider gerade der europäische Raum nicht gänzlich abgedeckt wird. Selbst für die letzten Jahre wird auch der Spielekenner Plattformen entdecken, die er zuvor gar nicht wahrgenommen hatte. Einen solchen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt und erfüllt kein anderes Buch.
Die Schattenseite ist, dass Herman die xte Kinder-Lernkonsole von VTech fast genauso ausführlich behandelt wie die Wii, der PlayStation kaum mehr Text widmet als den einzelnen Geräten der Atari-Flashback-Serie. Außerdem beschränkt er sich fast gänzlich auf den Hardware-Aspekt der Spieleindustrie und lässt die Software so gut wie ganz außer Acht, von allen nur erdenklichen weiteren analytischen wie narrativen Elementen rund um Videospiele ganz zu schweigen. Allein die Peripherie zu Videospielen scheint ihn zu interessieren, und so kommt es, dass jeder „Guitar Hero“-Teil deutlich mehr Text erhält als bedeutsame Spieleklassiker wie „Super Mario Bros.“ oder „The Legend of Zelda“. Und wenn es um Software geht, dann allein um Arcade-, Handheld- und Konsolenspiele, denn Computer- und Mobilespiele werden ganz außen vor gelassen.
Eher einschläfernd statt fesselnd
Diese extreme Engführung auf den Hardware-Aspekt ist ungewöhnlich für ein Buch über die Videospieleindustrie und widerspricht eigentlich dem Untertitel, doch immerhin hat „Phoenix IV“ ja auch so einen extremen Umfang erreicht. Es hängt einfach mit der Konzeption des Buches zusammen – und auch damit, zumindest hat man stellenweise beim Lesen diesen Eindruck, dass Herman kein sonderlich großer Fan von Videospielen ist. Eine echte Begeisterung für das eigentlich hochspannende Thema liest sich aus den über 800 Seiten kaum heraus.
Durch Hermans Freundschaft mit Ralph Baer, dem 2014 verstorbenen Ingenieur hinter der ersten Spielekonsole, erhält das Buch zwar teilweise eine persönliche Note, doch überwiegend ist es schlicht und ergreifend nicht sonderlich spannend geschrieben. Wörtliche Zitate, die den Text auflockern könnten, sind äußerst selten. Große Teile des Buches sind nicht mehr als trockene Aneinanderreihungen von mehr oder weniger interessanten Fakten. Und währenddessen hat man häufig das Gefühl, dass die wahre Bedeutung der vorgestellten Bausteine der Spielegeschichte verschlossen bleibt – ein analytisches, übergreifendes Element fehlt abgesehen von den Einleitungen und Schlussteilen der einzelnen Kapitel größtenteils.
Auch darin ist „Phoenix IV“ unter seinen zugegebenermaßen nicht sonderlich zahlreichen Buchgenossen einzigartig. Andere Werke über Spielegeschichte stammen von Journalisten und/oder Spielefans und lesen sich auch entsprechend. Ob man Herman nun angenehme Neutralität attestieren oder zu große Distanziertheit vorwerfen sollte, ist Ansichtssache. Zumindest werden die trockene Schreibe und die vielen nebensächlichen Details durch die zahllosen Farbabbildungen wettgemacht. Von so gut wie jeder Konsole konnte Herman aus seiner Sammlung gute Bilder anfertigen, eine tolle Leistung. So gesehen ist „Phoenix IV“ zugleich das farbloseste wie das bunteste Buch über Spielegeschichte.
I am error
Auch wenn das Buch ansonsten sprachlich nicht sonderlich schlecht geraten, sondern ganz gut zu lesen ist, strotzt der in Hermans Eigenverlag veröffentlichte Titel leider nur so vor Fehlern. Sprachliche Fehler, Tippfehler und dergleichen tauchen ständig auf und stechen selbst dem Nicht-Englisch-Muttersprachler andauernd in die Augen. Hinzu kommen nicht selten irritierende Fehler im Layout.
Und wenn das mal alle Fehler wären: Auch wenn Herman in seiner Einleitung versichert, dass inhaltlich aufgrund mehrerer Checks von Experten alles korrekt sei, sind uns doch zahlreiche inhaltliche Mängel und Ungenauigkeiten aufgefallen. Da Herman so gut wie nie seine konkreten Quellen angibt, erweist sich das Nachprüfen im Einzelfall als schwierig. Für die professionelle Beschäftigung mit der Videospielgeschichte, für die das Buch in vielen Rezensionen als unverzichtbare Grundlage angepriesen wird, eignet sich das Werk darum gerade leider nur bedingt. Und ohnehin gibt es ja nur wenig Substanz im Buch, die man nicht selbst relativ schnell ergoogeln könnte, denn exklusives Material und neue Erkenntnisse, wie sie fast alle anderen Bücher zum Thema bringen, gibt es hier kaum. Womit „Phoenix IV“ stattdessen punktet, ist sein eingangs beschriebener unvergleichlich breiter Überblick.
Fazit
Bis hierhin mag die Rezension recht negativ gewirkt haben. Das als „Bibel der Videospielgeschichte“ gelobte Buch erweist sich längst nicht als so unfehlbar, wie es viele Rezensenten wahrhaben wollen, deren wohlwollenden Zitate die Einschlagseiten zieren. Das beste Buch über dieses Thema ist „Phoenix IV“ also definitiv nicht. Aber wir haben das Buch auch so gelesen, wie man es wohl eben nicht lesen sollte, nämlich von vorne bis hinten und jede einzelne Seite. „Ein Problem an ‚Phoenix‘ ist, dass es eine trockene Lektüre ist“, sagte selbst der Autor in einem Interview. „Zwar haben es viele von Anfang bis Ende gelesen, man kann es aber auch als Enzyklopädie betrachten.“
Als Nachschlagewerk, das einen prächtig illustrierten, sehr breit gefächerten und faszinierenden Überblick über die Geschichte der Videospielindustrie gibt und sich zudem sehr schick im Bücherregal gibt, taugt das Werk hingegen sehr. Und auch wenn der Preis für die Farbversion mit etwa 80 Euro recht happig sein mag, stimmt zumindest die Qualität der äußeren Verarbeitung.
Eine Übersicht über weitere Videospiel-Sachbücher, die wir für euch gelesen und rezensiert haben, findet ihr unter diesem Link.
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