Inside Nintendo 186: Die spektakulärsten Entdeckungen des Nintendo-Gigaleaks 2020 (Teil 1)

Im weiten Ozean der Videospielindustrie gilt Nintendo als ein zwar eher schwerfälliger, dafür aber vergleichsweise wasserdichter Dampfer. In den letzten Jahren hat jedoch auch der Konzern aus Kyoto vermehrt leckgeschlagen. Damit meinen wir hier kein verfrühtes Durchdringen neuer Ankündigungen – davor scheint Nintendo im Großen und Ganzen immer noch relativ gut gefeit –, sondern Hackerangriffe, die streng vertrauliche Daten aus Nintendos Entwicklungsabteilungen ans Tageslicht gebracht haben. Dies kulminierte 2020 im sogenannten „Gigaleak“, einem in Nintendos Geschichte hinsichtlich Umfang und Bedeutung einmaligen Durchsickern interner Materialien aus der Spieleentwicklung.

Zugegeben, damit sind wir etwas spät dran, denn die Berichterstattung über den Gigaleak war hauptsächlich im Juli 2020 in vollem Gange. Rasch aber verebbte das Interesse an diesen historisch bedeutsamen Funden in der äußerst schnelllebigen Welt des Internets. Eine breitere Einordnung der Funde hat auf den meisten Spieleseiten, die davon berichtet haben, nicht stattgefunden – das war auch gar nicht möglich, da die Entdeckungen noch viel zu jung waren. Obzwar die Daten auch jetzt noch längst nicht alle ausgewertet sind, möchten wir einige der spektakulärsten Funde näher vorstellen und in den Kontext der Entwicklung des jeweiligen Spiels einordnen.

Inside Nintendo: Nur selten erhalten wir direkten Zugang hinter die Kulissen von Nintendo, wie auf diesen Fotos aus einer französischen Reportage von 1994, die einen seltenen Einblick in die Entwicklungsabteilung des Konzerns geben. 2020 sind unter anderem originale Backups ganzer Arbeitsstationen aus just dieser Zeit, erbeutet von einem Hacker, ins Internet gestellt worden – vielleicht ja sogar von genau den Computern, die wir hier sehen?

Chronik eines Leaks

Doch beginnen wir ganz von vorne: Was ist der sogenannte Gigaleak überhaupt? Die Geschichte begann Ende Mai 2018, und zwar mit einem regelrechten Paukenschlag, denn wie aus dem Nichts tauchte damals ein Prototyp von „Pokémon Gold“ und „Pokémon Silber“ komplett spielbar im Internet auf. Es handelte sich um jene geradezu legendäre Fassung des Spiels von der Nintendo Space World 1997, die in Fankreisen so etwas wie der heilige Gral der „Pokémon“-„Beta-Versionen“ war. „Das Wort ‚sensationell‘ wird heutzutage gern überstrapaziert, aber dies hier ist tatsächlich eine Sensation“, schrieben wir damals – nicht ahnend, dass dies zwei Jahre später um Längen in den Schatten gestellt werden sollte.

Die Prototypen gaben uns unschätzbar wertvolle Einblicke in die Entstehung der zweiten „Pokémon“-Generation und beantworteten viele Fragen, stellten zugleich aber auch neue, etwa jene nach dem Ursprung dieser Daten. Es hieß, dass die ROMs von Modulen der Space-World-1997-Fassung aus der Sammlung eines verstorbenen Sammlers stammten. Doch völlig klären ließ sich die Herkunft damals nicht, wie es bei derartigen Leaks ja häufig der Fall ist.

Im März 2020 kam es zu weiteren derartigen Leaks aus dem „Pokémon“-Bereich, und ab Mai tauchten sogar Quellcodes und interne Dokumentationen zu mehreren Nintendo-Konsolen, darunter auch der Wii, im Internet auf. Das, was als Gigaleak bezeichnet wird, ereignete sich schließlich am 24. Juli 2020: Ein anonymer Nutzer stellte eine 373 Megabyte umfassende Archivdatei namens „other.7z“ online. Diese enthielt, wie sich rasch herausstellte, bis 1989 zurückreichendes Material aus der Entwicklung von Nintendo-Spielen. Nur zwei Tage später wurde auf dieselbe Weise ein Archivordner namens „bbgames.7z“ geleakt, der in 3,6 Gigabyte Daten unter anderem Material diverser N64-Spiele enthielt.

Ein kleiner Einblick in die Daten des Gigaleaks: Frühe Originaldateien aus der Entwicklung von „Super Mario World“ (März bis Juni 1989) aus dem Arbeitsplatz von Grafiker Shigefumi Hino (links) sowie aus der Entwicklung von „The Legend of Zelda: A Link to the Past“ (August bis Oktober 1990) von Grafiker Tsuyoshi Watanabe.

Ein empfindliches Datenleck

Inmitten der tausenden Dateien aus diesen Leaks befanden sich ROMs, Quellcodes, Tools und Assets aus der Entwicklung diverser Nintendo-Klassiker der 1990er-Jahre, darunter „Super Mario World“, „Super Mario Kart“, „Star Fox 2“, „Super Mario World 2: Yoshi’s Island“, „Super Mario 64“ und „The Legend of Zelda: Ocarina of Time“. Sogar Teile des Quellcodes des ersten „Super Mario Bros.“ von 1985 waren enthalten! Doch die Datenmassen umfassten auch unveröffentlichte Spiele und zahlreiche E-Mails von Nintendo-Mitarbeitenden. „Die Phrase ‚heilige Scheiße‘ wurde so oft geäußert, dass sie ihre Bedeutung verlor“, schrieb Vice.com. „Alle paar Minuten fanden Leute etwas Revolutionäres.“

Mehrere Gigabyte an Originaldaten von Nintendos streng vertraulichen Entwicklungsservern waren nun öffentlich zugänglich. Ein Großteil der Daten aus dem Archiv „other.7z“ geht zurück auf Backups von den Sony-News-Workstations, mit denen Nintendo in den 1990er-Jahren gearbeitet hatte. Einer Datei aus dem Leak zufolge wurden diese Backups um 2016 erstellt, wobei von 41 Workstations nur noch sieben eingelesen werden konnten. Das Archiv „bbgames.7z“ hingegen stammt ursprünglich vom Unternehmen BroadOn, das eine wichtige Rolle bei der Entwicklung der Wii spielte.

Häppchenweise ereigneten sich in den nächsten Monaten bis Dezember 2020 insgesamt sieben weitere Leak-Wellen, die nun sogar bis in die Zeit der Nintendo Switch hineinreichten und unter anderem Prototypen der jüngsten „Pokémon“-Spiele ans Tageslicht brachten. Wenn auch keine damals noch in Entwicklung befindlichen oder gar noch unangekündigten Spiele geleakt wurden, so war dennoch klar, dass es sich um einen schweren kriminellen Akt handelte, der für Nintendo nicht nur einen immensen Schaden, sondern auch einen empfindlichen Eingriff in die eigene Privatsphäre bedeutete.

Links: Hiermit fing alles an: Am 26. Mai 2018 postete Zammis Clark auf einem Discord-Server diesen Firefox-Send-Link, der sich nur 20 Mal aufrufen ließ und der zu den Space-World-1997-Fassungen von „Pokémon Gold“ und „Pokémon Silber“ führte. Rechts: So ähnlich sahen die 4chan-Leaks von 2020 aus: Ein anonymer Nutzer posteste einen Link und einen wenig aussagekräftigen Text. Dieser Leak vom 19. März 2020 enthielt unter anderem Debug-Versionen von „Pokémon Blau“ und „Pokémon Gelb“.

Ein Hacker und eine zwielichtige Community

All diese Leaks gehen auf ein und dieselbe Quelle zurück, auf den Hacker Zammis Clark. Bereits 2015 und 2017 hatte der Mitarbeiter des IT-Sicherheitsunternehmens Malwarebytes mit großflächigen Cyberattacken auf Vtech und Microsoft für Aufsehen gesorgt. Zwischen März und Mai 2018 verschaffte er sich Zugriff auf interne Server von Nintendo und verbreitete einige der erbeuteten Daten im Laufe des Jahres selber im Internet, darunter die Prototypen von „Pokémon Gold“ und „Pokémon Silber“. Im März 2019 wurde Clark, damals 24 Jahre alt, verurteilt und entging zwar aufgrund seines Autismus einer Gefängnisstrafe, hatte aber fortan keinen unkontrollierten Zugriff mehr aufs Internet. Nintendo bezifferte den angerichteten Schaden mit zwischen 900.000 und 1,8 Millionen US-Dollar.

Die weiteren Leaks hat Clark nicht mehr selber ins Internet gestellt. Vor seiner Verurteilung hatte er die erbeuteten Daten an Freunde weitergegeben, die diese später häppchenweise und natürlich anonym als Download-Links im berüchtigten Forum 4chan verbreiteten. Angeblich hat Clark insgesamt etwa 2,5 Terabyte an Daten von Nintendos Servern erbeutet; die öffentlich geleakten Daten umfassen nur einen Bruchteil davon.

Des einen Freud, des anderen Leid

In einem in der Videospielindustrie beispiellosen Akt der Cyberkriminalität waren also von einem der verschlossensten Konzerne der Branche streng vertrauliche und unschätzbar wertvolle Dateien aus fast 30 Jahren gestohlen worden. Der einzige betroffene Entwickler, der sich öffentlich dazu geäußert hat, ist Dylan Cuthbert, einer der Verantwortlichen hinter den ersten „Star Fox“-Spielen. „Ich habe dieses Tool, das ich für ‚Star Fox 2‘ geschrieben habe, seit fast 30 Jahren nicht mehr gesehen“, schrieb er am 25. Juli 2020 auf Twitter. „Wo zur Hölle haben Hacker all diese obskuren Daten herbekommen?“

Zugleich verschaffte Cuthbert seinem Bedauern über diesen Eingriff in die Privatsphäre eines Unternehmens und seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Ausdruck. „Das sind private Sachen; es fühlt sich zudringlich an. Quellcodes sind Stunden über Stunden, Jahre über Jahre an persönlicher Arbeit, lange Stunden, Schweiß und Tränen.“ Das hielt interessierte Nintendo-Fans und Hacker freilich nicht davon ab, die geleakten Daten zu untersuchen und die interessantesten Funde der Netzöffentlichkeit zu präsentieren.

Dies erfolgte überwiegend unkoordiniert über Discord-Kanäle und Twitter-Accounts; eine vollständige, frei zugängliche und vor allem seriöse Übersicht über sämtliche Funde scheint es bis heute nicht zu geben. Eine recht detaillierte Auflistung der mit Zammis Clark zusammenhängenden Leaks findet sich im „Rare Gaming Dump“-Wiki, und als eine ziemlich zuverlässige Fundgrube dezentraler Auswertungen bedeutsamer Entdeckungen bietet sich die Seite „The Cutting Room Floor“ an. Auch der Twitter-Account „Nintendo Metro“ teilt regelmäßig neue Entdeckungen aus dem Gigaleak.

Die Büchse der Pandora: ein moralisches Dilemma

Gerne möchten wir einige der spektakulärsten Funde aus dem Gigaleak nun näher vorstellen. Zuvor aber müssen wir uns über die moralischen Implikationen Rechenschaft ablegen. Die Leaks stellen jeden, der sich für die Entwicklungsgeschichte von Nintendo-Spielen interessiert, vor ein großes Dilemma: Dass originale Entwicklungsunterlagen bis hinein in die späten 1980er-Jahre zugänglich sind, liefert uns äußerst wertvolle Einblicke – und ist ein unfassbar glücklicher Zufall, denn in den 1980er- und 1990er-Jahren war es in der Videospielindustrie eher unüblich, Quellcodes, geschweige denn digitale Entwicklungsmaterialien, dauerhaft zu archivieren. Andererseits beruhen diese Einblicke auf kriminellen Aktivitäten, auf Diebstahl hochsensibler Daten, der unter keinen Umständen gutgeheißen werden kann.

Oft vergleichen wir bei „Inside Nintendo“ das Aufspüren interner Materialien aus der Spieleentwicklung mit Archäologie. Wenn das Durchforsten der veröffentlichten Spielefassungen nach ungenutzten Rückständen aus der Entwicklungsphase so etwas wie eine kontrollierte Ausgrabung ist, so könnte man im Falle des Gigaleaks von einer illegalen Raubgrabung sprechen. In der wissenschaftlichen Archäologie gibt es viele Stimmen, die Funde aus Raubgrabungen, so wertvoll sie auch sein mögen, grundsätzlich nicht berücksichtigen, um die dahinterstehenden kriminellen Machenschaften nicht zu unterstützen.

Nun steht hinter dem Nintendo-Gigaleak nicht, wie etwa bei einigen Raubgrabungen im Nahen Osten, die Finanzierung von Terrororganisationen, sondern ein neugieriger, autistischer Hacker. Dieser aber hat mit seiner Aktion mehreren Unternehmen und vielen Einzelpersonen einen immensen finanziellen und insbesondere ideellen Schaden verursacht. Jeder, der selber einmal an einem kreativen Projekt gearbeitet hat, kann sich vorstellen, wie unangenehm es sein muss, wenn auf einmal die Öffentlichkeit völlig ungefragt im eigenen Schaffensprozess herumschnüffelt.

Mögliche Konsequenzen dieses Vorfalls skizzierte ein Brancheninsider auf Twitter: „Maßnahmen zur Unternehmenssicherheit und Überwachung werden wahrscheinlich industrieweit verschärft, was den Druck auf Angestellte erhöht und harte Jobs noch schwieriger macht. Das Bloßstellen von Codes und Assets erleichtert es Wettbewerbern, sich Techniken anzueignen. Rohe Entwürfe, laufende Arbeiten und private Kommunikation offenzulegen, kann die Betroffenen beschämen, ihrem Ruf schaden und sogar ihre Karrieren beeinträchtigen.“

Die Leaks zu ignorieren, ist jedoch kaum eine realistische Option, denn sie haben sich so schnell und weit im Internet verbreitet, dass dies schlechterdings gar nicht mehr möglich ist. So hat auch Nintendo nicht den Versuch unternommen, die Verbreitung der geleakten Daten und die Berichterstattung darüber zu unterbinden; es wäre ein Kampf gegen Windmühlen gewesen. Mit dieser Problematik im Hinterkopf beginnen wir nun, uns die spannendsten Funde des Gigaleaks näher anzuschauen.

Verschiedene Entwürfe und Designstadien, die Yoshi durchlaufen ist. Oben links eine erste Skizze, die ein paar Jahre vor „Super Mario World“ entstand und schon länger bekannt ist. Die übrigen Sprites hat der Gigaleak ans Tageslicht gebracht. Unten rechts ein verworfener alter Yoshi.

Evolution eines Dinosauriers

Einige der ältesten Daten aus dem Gigaleak stammen aus dem Jahr 1989 und betreffen das SNES-Launchspiel „Super Mario World“. Unter den Unmengen an früheren oder sogar ganz verworfenen Versionen von Grafikelementen befanden sich welche, die uns einen genaueren Einblick in die Entstehung von Yoshi gewähren. Dass die Idee zu dem süßen Reittier einige Jahre vor der Entwicklung von „Super Mario World“ aufkam, ist bereits seit langer Zeit fast schon Allgemeinwissen. Dazu ist sogar eine frühe Konzeptskizze bekannt. Ein Fund aus dem Gigaleak hat nun eine sehr frühe Version von Yoshi aus „Super Mario World“ zutage gefördert, die sich noch deutlich mehr an diesem Entwurf orientiert.

Yoshi sieht hier schlaksiger und primitiver aus als in seiner finalen Gestaltung und erinnert deutlich mehr an einen Dinosaurier. Außerdem konnte er in dieser Entwicklungsphase noch Feuer speien. In den geleakten Daten sind noch weitere frühere oder alternative Entwürfe gefunden worden. Der Dinosaurier-Entwurf aber dürfte die mit Abstand früheste bekannte Fassung von Yoshi aus „Super Mario World“ sein, auch wenn wir sie leider nicht exakt datieren können. Vielleicht handelt es sich dabei ja um jene frühe Version, die die Entwickler vor wenigen Jahren in einem Interview erwähnt und wie eine große Eidechse oder ein Krokodil beschrieben hatten (ausführlich dazu in „Inside Nintendo 144“)?

Eine weitere interessante Entdeckung aus den Gigaleak-Daten zu „Super Mario World“ ist der alte Yoshi, der im obigen Bild unten rechts zu sehen ist. Ausweislich des Dateinamens sollte er im Yoshi-Haus am Beginn des Spiels auftreten; erhalten sind eine Lauf- und eine Sprechanimation. Die Grafik ist datiert auf den 11. Juli 1990. Im finalen Spiel gibt es von dieser Idee keine Überbleibsel mehr, und das Konzept eines alten Yoshi hat Nintendo bis heute nicht aus den Archiven gekramt.

Die verlorene Welt von „Super Mario World“

Die frühesten Screenshots zu „Super Mario World“, das in Japan im November 1990 parallel mit dem Super Famicom auf den Markt kam, stammen von Mitte 1989 und zeigen eine sehr andere Version des Spiels. Zu den markanten Unterschieden dieser frühen Version, die sich noch stark am Vorgänger „Super Mario Bros. 3“ orientiert, zählt die Oberwelt. Ein bekannter Screenshot aus dieser Fassung zeigt eine Pilz-förmige Weltkarte, die völlig von der finalen Version unterschieden ist.

Der Gigaleak ermöglicht uns nun einen genaueren Blick auf diese frühe Weltkarte, die wir sonst nur aus jenen alten Screenshots kannten. Das ist aber noch nicht alles: Wir können jetzt minutiös nachvollziehen, wie genau diese allererste, letztlich aber verworfene Weltkarte aus „Super Mario World“ entstanden ist! Die wichtigsten Stationen dieser Entwicklung zeigen wir in den Bildkollagen.

Die erste erhaltene Grafik zeigt einen sehr frühen Platzhalter für eine Oberwelt (1). Hinsichtlich des Aufbaus und der Gestaltung der Grafikelemente könnte diese Weltkarte glatt aus „Super Mario Bros. 3“ stammen. Wir sehen hier anscheinend die allerersten Überlegungen und Experimente rund um die Oberwelt für „Super Mario World“, denn die Datei datiert auf den 1. April 1989 – nur wenige Monate nach Projektbeginn. Es handelt sich um den ältesten sicher datierbaren Fund aus „Super Mario World“.

Nur gut zwei Wochen später, am 18. April 1989, entstand ein weiterer Weltkarten-Prototyp, der im Gigaleak nur noch teilweise erhalten ist (2). Es lässt sich deutlich erkennen, dass die Welt die Form eines großen Pilzes aufweisen sollte. Das Entwicklerteam scheint die Idee aber zunächst nicht weiter verfolgt zu haben, denn am 25. April 1989, nur eine Woche später, wurde stattdessen eine neue Oberwelt-Insel ohne Pilzform entworfen (3). Dieses Konzept wurde bis Juni 1989 mehrfach weiterentwickelt. Die dazugehörigen Dateinamen weisen übrigens darauf hin, dass die Entwickler planten, den Mode-7-Effekt für die Oberwelt einzubinden. Das hätte vermutlich ähnlich ausgesehen wie in „Zelda: A Link to the Past“.

Nur wenig später kehrten die Entwickler zu der früheren Pilz-Idee zurück. Auf den 13. Juli 1989 datieren die Daten einer weiter ausgearbeiteten Version, die größtenteils jener zu entsprechen scheint, die auf den Screenshots von 1989 zu sehen war (4). Die Schlosslevel waren in diesem Entwicklungsstadium noch nicht auf der Weltkarte zu erkennen. Eine Datei vom 25. September 1989 erweiterte die Weltkarte um weitere Bereiche neben der Pilzinsel (5). Dieser Entwurf wurde bis zum 20. Oktober 1989 noch weiter ausgebaut (6). Für längere Zeit war diese Pilz-Oberwelt fester Bestandteil des Projekts, denn bis mindestens zum 15. März 1990 haben die Entwickler das Design nachweislich weiter modifiziert. Zu einem späteren Zeitpunkt wurde dieses Oberwelt-Konzept aber restlos verworfen und stattdessen entstand das Dinosaurierland, wie wir es aus dem finalen „Super Mario World“ kennen.

Warum die Entwickler das ältere Konzept der Weltkarte aufgegeben haben, darüber können uns diese Entdeckungen allein keine Auskunft geben. Dass wir aber den Entstehungsprozess eines zentralen Spielelements während einer sehr frühen Entwicklungsphase derart genau nachvollziehen können, das ist in der Nintendo-Welt nur sehr selten möglich – und noch dazu für ein 30 Jahre altes Spiel. Für all jene, die gern einen Blick hinter die Kulissen von Nintendos Spielen werfen, sind diese Weltkarten-Funde aus „Super Mario World“ in der Tat nicht weniger als spektakulär.

Sprites für die titelgebende Kampflibelle und einen Boss (links) aus „Dragonfly“; rechts ein Screenshot des Prototyps von 1989.

Dragonfly: der actionreiche Vorläufer von Pilotwings

Eines der frühesten SNES-Spiele ist „Pilotwings“. Während der Nintendo-Titel in Japan einen Monat nach Markteinführung der Konsole erschien, zählte er später in Nordamerika und Europa direkt zu den Starttiteln. Die entspannte Flugsimulation verwendet den Mode-7-Effekt, der durch das Rotieren und Skalieren von Sprites einen rudimentären Eindruck räumlicher Tiefe erzeugt und auch in „F-Zero“ prominent zum Einsatz kommt. „Pilotwings“ diente nicht zuletzt der Vorführung dieses Grafikeffekts, und so war das Projekt neben „Super Mario World“ als erstes SNES-Spiel im Juli 1989 auf einer Presseveranstaltung der Öffentlichkeit gezeigt worden. Damals aber hörte es noch auf einen anderen Namen: „Dragonfly“.

Jahrzehntelang waren Magazinscans von Screenshots aus dem Jahre 1989 alles, was wir von „Dragonfly“ hatten. Dies genügte aber um sagen zu können, dass es ein ziemlich anderes Spiel als „Pilotwings“ war. In diesem Prototyp steuerte man eine futuristisch anmutende mechanische Libelle, die Projektile verschoss. Es handelte sich um einen 3D-Shooter und somit um ein deutlich actionorientierteres Spiel als das spätere „Pilotwings“. Die dahinterstehende Mode-7-Grafik ist dem Prinzip nach zwar beibehalten worden, die konkrete optische Gestaltung erfuhr jedoch deutliche Umarbeitungen.

Die Hoffnung auf eine vollständig erhaltene und spielbare Fassung von „Dragonfly“ hat sich leider auch mit dem Gigaleak nicht erfüllt. Jedoch sind immerhin originale Materialien aus dieser Phase der Entwicklung von „Pilotwings“ enthalten gewesen, womit wir also erstmals seit gut 30 Jahren neue Einblicke in diesen Prototyp erhalten. Dazu gehören Sprites für die Roboterlibelle sowie thematisch passende Bosse, die zumindest zum Teil an ein Weltraumsetting denken lassen. Auch verschiedene Karten aus „Dragonfly“ sind erhalten – darunter eine, in deren Mitte ein Entwickler die doch sehr Nintendo-untypische Botschaft „Fuck You“ hinterlassen hat. Die aus den Screenshots von 1989 bekannten Karten scheinen zwar nicht genau so im Leak enthalten zu sein, manche der durchgesickerten Daten weisen aber durchaus Ähnlichkeiten auf.

Die Karten stammen aus dem Zeitraum vom 28. Februar 1989 bis zum 23. Februar 1990. Da „Pilotwings“ im Dezember 1990 auf den Markt kam, scheint die massive Umarbeitung erst relativ spät erfolgt zu sein. Warum sich die Entwickler um Tadashi Sugiyama, der im Anschluss übrigens Co-Director von „Super Mario Kart“ war, für den Kurswechsel entschieden haben, kann der Leak nicht beantworten. Vielleicht wollte Nintendo zum SNES-Start eine ruhigere Alternative zum doch sehr adrenalingeladenen „F-Zero“ anbieten können und hat sich deshalb dazu entschieden, aus dem Shooter „Dragonfly“ die Flugsimulation „Pilotwings“ zu machen. Wie eines der frühesten SNES-Spiele hätte werden können, dazu haben wir nun jedenfalls unerwartete neue Einblicke erhalten, auch wenn um diesen Begründer einer eher wenig erfolgreichen Nintendo-Reihe noch viele Fragen offen bleiben.

Diese Karte, die wir dem Gigaleak verdanken, war anscheinend einer der früheren Level von „Dragonfly“ (links). In überarbeiteter Form hat sie es als Map für Lektion 3 ins spätere „Pilotwings“ geschafft (rechts).

Die bisher vorgestellten Funde sind nicht mehr als die Spitze des Eisbergs. Weitere besonders bedeutende Entdeckungen aus dem Gigaleak stellen wir euch im kommenden zweiten Teil der Reportage vor.

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Bisher gibt es fünf Kommentare

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  • Avatar von Tobias
    Tobias 07.07.2021, 16:56
    Zitat Zitat von matzesu Beitrag anzeigen
    War das eigendlich der Gigaleak wo auch rauskam das es mal ein PDA Programm inklusive Tastatur für den Gameboy geben sollte oder verwechsel ich da was?
    Etwas Entsprechendes ist mir zumindest nicht untergekommen.
  • Avatar von matzesu
    matzesu 07.07.2021, 13:49
    War das eigendlich der Gigaleak wo auch rauskam das es mal ein PDA Programm inklusive Tastatur für den Gameboy geben sollte oder verwechsel ich da was?
  • Avatar von BIGBen
    BIGBen 05.07.2021, 20:51
    Mega! Freue mich auf den nächsten Teil!
  • Avatar von Tobias
    Tobias 05.07.2021, 10:25
    Zitat Zitat von Fabian Beitrag anzeigen
    Mal wieder sehr spannend! Es freut mich, dass du dich diesem Thema annimmst. Selbst hätte ich weder die Zeit, noch die Nerven, mir die interessanten Teile des Gigaleaks herauszusuchen. Der Großteil der Berichterstattung darüber ist im letzten Jahr an mir vorbei gegangen.
    Vielen Dank! Ich habe die ganze Sache letztes Jahr im Juli schon recht gründlich nachverfolgt, und trotzdem habe ich bei der Recherche für die Artikel jetzt noch zahlreiche Überraschungen erlebt. Das Thema ist so riesig, da ist es so gut wie unmöglich, einen vollständigen Eindruck von zu erhalten.
  • Avatar von Fabian
    Fabian 04.07.2021, 20:32
    Mal wieder sehr spannend! Es freut mich, dass du dich diesem Thema annimmst. Selbst hätte ich weder die Zeit, noch die Nerven, mir die interessanten Teile des Gigaleaks herauszusuchen. Der Großteil der Berichterstattung darüber ist im letzten Jahr an mir vorbei gegangen.