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30 Jahre Die Simpsons: Der Anfang, der fast das Ende geworden wäre
30 Jahre Die Simpsons: Der Anfang, der fast das Ende geworden wäre
Vor 30 Jahren begann eine der größten Legenden der modernen Popkultur: Mit der Episode „Es weihnachtet schwer“ flimmerte „Die Simpsons“ am 17. Dezember 1989 auf FOX zum ersten Mal über die Mattscheiben. Was aber nur wenige wissen: „Es weihnachtet schwer“ war gar nicht als erste Folge der gelben Familie geplant. Die wahre erste Folge hat das Projekt einige Monate zuvor in eine schwere Krise geführt. Denn als die Produzenten die Animation der eigentlichen ersten Episode, „Der Babysitter ist los“, erstmals sahen, trauten sie vor Schreck ihren Augen kaum – und standen kurz davor, der vielversprechenden Serie noch vor ihrer Erstausstrahlung den Stecker zu ziehen. Anlässlich des Jubiläums der langlebigsten Zeichentrickserie der Welt erzählen wir die ganze faszinierende Geschichte hinter jenem Anfang, der fast das Ende geworden wäre.
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Die Geburtsstunde der Simpsons
Zunächst einmal werfen wir einen Blick zurück auf die Anfänge von „Die Simpsons“. Alles begann mit der Comedy-Show „The Tracey Ullman Show“, die ab 1987 auf dem US-amerikanischen Sender Fox ausgestrahlt wurde. Produzent James L. Brooks (* 1940) war auf der Suche nach kurzen Cartoon-Sketches, um die Show aufzulockern. Dabei stieß er auf Matt Groening (* 1954), dessen schwarzhumorige und sozialkritische „Life in Hell“-Comics sein Interesse weckten. Groening plante zunächst Cartoon-Animationen zu „Life in Hell“, entschloss sich aber sehr kurzfristig dagegen und entwickelte stattdessen für die „Tracey Ullman Show“ ein ganz neues Format.
Es gibt zwar unterschiedliche Versionen der Geschichte, wie genau Groening die gelbe Familie erschaffen hat und warum sie gerade gelb ist. Sie alle laufen aber darauf hinaus, dass Homer, Marge, Bart, Lisa und Maggie, die Groening mit Ausnahme von Bart nach Mitgliedern seiner eigenen Familie benannt hat, in kürzester Zeit entworfen wurden. Mit der Animation der kurzen „Simpsons“-Clips, die als eine Art Lückenfüller für die „Tracey Ullman Show“ fungieren sollten, wurde das US-amerikanische Studio Klasky Csupo betraut. In der Erwartung, dass dessen Animatoren Groenings Zeichnungen auf Hochglanz bringen würden, hatte dieser nur grobe Skizzen zur Verfügung gestellt, deren Stil dann aber unverändert übernommen wurde.
Bescheidene aber vielversprechende Anfänge
Die „Simpsons“-Kurzfilme für die „Tracey Ullman Show“ wurden innerhalb weniger Wochen von nur einer Handvoll Animatoren umgesetzt – zwei davon, Wes Archer und David Silverman, sollten später auch bei der „Simpsons“-Serie als Regisseure fungieren. Die gelbe Familie, die hier noch größtenteils ohne Nebenfiguren auskommt, wurde bereits von jenen Sprechern vertont, die die jeweiligen Rollen bis heute innehaben: Dan Castellaneta für den bierbauchigen Vater Homer, Julie Kavner für Mutter Marge, Nancy Cartwright für Sohn Bart und Yeardly Smith für Tochter Lisa.
Die für heutige Augen sehr krude wirkenden Clips zeigten eine typische US-amerikanische Familie in skurrilen bis albernen Situationen. Dabei geht es um mehr oder weniger normale Gegebenheiten im Familien-Alltag, etwa wie Homer und Marge ihre Kinder durch schlechte Ratschläge und angsteinflößende Lieder unabsichtlich beim Zubettgehen verschrecken, wie Bart und Lisa sich vor dem Fernseher streiten oder gegeneinander einen Rülpswettbewerb ausfechten – sehr zum Unmut ihrer Mutter.
Die Zeichnungen sind noch sehr grob und detailarm, die Animationen ziemlich simpel und übertrieben, die Geschichten ohne Tiefgang und auf kurze Lacher angelegt. Und doch finden sich bereits viele Bestandteile, die später die Serie auszeichnen sollten: Nie zuvor war im Zeichentrickformat so schonungslos realitätsnah eine amerikanische Durchschnittsfamilie dargestellt worden. In erster Linie ging es den „Simpsons“-Kurzfilmen von 1987 nur um Klamauk für Zwischendurch, doch die verrückte Familie, die der Gesellschaft kritisch den Spiegel vorhielt, sorgte für viel Aufmerksamkeit.
https://www.youtube.com/watch?v=Kg_YLrI3btw
Vom Lückenbüßer-Kurzfilm zur Sensations-Serie
Die „Simpsons“-Kurzfilme erwiesen sich als so beliebt, dass „Tracey Ullman“-Produzent Brooks das Potenzial zu einer eigenständigen animierten Fernsehserie sah. So begannen Groening und Brooks sowie Sam Simon (1955–2015), mit dem Brooks an früheren Projekten zusammengearbeitet hatte, aus Groenings Format als eine Art Spin-off eine umfangreiche Serie zu entwickeln. Fox war zunächst eher skeptisch, doch schließlich einigte sich der Sender mit den „Simpsons“-Vätern auf eine erste Staffel mit 13 Episoden zu je einer halben Stunde Länge. Als Produktionsunternehmen fungierte Brooks' Gracie Films, während die Animation wie schon bei den Kurzfilmen in die Hände von Klasky Csupo übergeben wurde.
Die Gestaltung der gelben Familie erfuhr starke Überarbeitungen – jetzt wurde das bis heute übliche Design festgelegt. Außerdem kamen zahlreiche Nebenfiguren und Handlungsschauplätze außerhalb des Familiendomizils hinzu. Ein Team von Autoren schrieb umfangreiche Drehbücher, die weit über den Ulk der Kurzfilme hinausgingen, den gesellschaftskritischen Humor aber noch steigerten. Obwohl es sich im Herzen um eine Zeichentrickserie handelte – mit einer umfangreichen Eröffnungssequenz, um Animationskosten für die Einzelepisoden zu sparen –, wurde die Serie in der echten Welt angesiedelt. Die Simpsons sollten sogar die Kirche besuchen – das war, wie unzählige weitere Elemente, für Zeichentrickserien bis dahin undenkbar gewesen.
Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne
Die erste „Simpsons“-Staffel ist auch heute noch äußerst sehenswert und für Serienfans ein faszinierendes Erlebnis. Hier sieht man ein Serienuniversum, das noch nicht gleichsam dogmatisch festgelegt, sondern gerade im Entstehen begriffen ist. Selbst die Charakterzüge der Protagonisten stehen noch nicht endgültig fest, erscheint Lisa doch häufig als genauso albern und ungezogen wie ihr Bruder, wohingegen Homer oft deutlich vernünftiger wirkt, als ihn spätere Staffeln zeichnen. Der Humor schafft es, sich sowohl an Kinder wie auch an Erwachsene zu richten, was seither ein weiteres Markenzeichen der Serie ist.
Die Storys aus der ersten Staffel nehmen sich noch wesentlich ernster als in späteren Jahren, ohne aber auf tiefsinnigen Humor zu verzichten. Selbst im Vergleich zu den nachfolgenden frühen Staffeln, die unter „Simpsons“-Fans deutlich mehr geschätzt werden als die Staffeln der vergangenen zehn bis 15 Jahre, fällt die Erzählweise recht langatmig und die Animation sehr lebendig und organisch aus – gerade das macht den einzigartigen Charme dieser ersten 13 Episoden aus. Erzählt werden dabei Geschichten, die sich im Wesentlichen auf den Familienkreis beschränken – es geht etwa darum, wie Homer das Weihnachtsfest in den Sand zu setzen droht, Bart bei einem Intelligenztest schummelt und auf einer Hochbegabtenschule landet oder Lisa ihre Traurigkeit mit dem Saxophonspiel überwindet.
Aber auch Themen, die für das Zeichentrickfernsehen der 1980er-Jahre unerhört waren, fanden Aufnahme: Wie etwa Marge in die Versuchung des Ehebruchs gerät, wie Homer ein Verhältnis zu einer Bauchtänzerin nachgesagt wird und sogar, wie der Familienvater seinen Suizid plant. Hier zeigt sich: Die Produzenten hatten sich die ehrgeizige Aufgabe gesetzt, eine Zeichentrickserie zu erschaffen, die auch Erwachsene anspricht und bei den Zuschauern echte Emotionen auszulösen vermag. Dass uns dies in der post-simpsons'schen Zeichentrickära nicht sonderlich bemerkenswert scheint, darf nicht darüber hinweg täuschen, was für große und wegweisende Ambitionen dies für das Medium der Zeichentrickfilme darstellte.
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V.l.n.r.: Matt Groening, James L. Brooks und Sam Simon
Die schlechteste Episode aller Zeiten
Doch beinahe wäre all dies nie Wirklichkeit geworden – und Schuld waren weder das mutige Format, die provokanten Drehbücher noch der skeptische Sender, sondern die Animation. „Der Babysitter ist los“, dessen Drehbuch Groening selbst mit Sam Simon verfasst hatte, sollte die Mitglieder der gelben Familie zum ersten Mal vorstellen. Da die Folge gleichsam als Einführung in die Serie und somit als Staffelauftakt geplant war, ging sie auch als erste der Staffel in die Animation.
Als sechs Monate später die animierten Szenen für „Der Babysitter ist los“ ankamen, war in den Büros des Produktionsunternehmens Gracie Films die Spannung groß. Doch das gezeigte Material schlug ein wie eine Bombe – und zwar im negativen Sinne. „Es war schmerzhaft, wirklich schmerzhaft“, so Groening, und James Brooks erinnerte sich zurück: „Es war die schlechteste Version von ‚The Simpsons‘. Man kann sich nicht vorstellen, wie schlecht sie war. Es war grauenhaft.“
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Die Simpsons trifft auf Warner Bros.
Das Bildmaterial ist symptomatisch für die Anfänge einer Zeichentrickserie, die erst ihren eigenen Stil zu finden im Begriff ist. Am Ende des offiziellen Episoden-Audiokommentars schilderte Groening ausführlich das Problem: „Bei einem Trickfilm schafft man eine eigene Welt mit eigenen Regeln. In jeder Zeichentrickwelt gibt es andere Regeln. Disney hat eigene Regeln. Warner Bros. auch. Und wir schaffen die Regeln für ‚The Simpsons‘. Das Problem bei diesen Folgen war, dass die Regeln noch nicht deutlich waren.“
Die wohl wichtigste dieser Regeln waren realistische Animationen, die eben nicht wie in Cartoons wirken sollten. Doch im Pilotmaterial sehen wir eine Variante der „Simpsons“, die stark von typischen Cartoon-Animationen beeinflusst ist. „Ich habe das Gefühl, dass bei Disney-Cartoons die gesamte Welt auf Sprungfedern ruht. Alles federt irgendwie“, fuhr Groening fort. „Bei Cartoons von Warner Bros. ist alles wie aus Gummi. Es gibt extreme Posen.“ Und genau so sollte es bei seiner Serie nicht sein: „Bei ‚The Simpsons‘ sind die Figuren mittleren Alters, ziemlich steif und unbeholfen […]. Sie laufen nicht durch die Lüfte, wie das bei Warner Bros. der Fall ist. Die Anatomie ist konsequent und es gibt realistische Toneffekte.“
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Hier sehen wir eine Szene, die unverändert aus der Pilotfassung übernommen worden ist. Besonders die Detailarmut sowie der Farbverlauf im Hintergrund sind charakteristisch für frühes Material.
Finde die Fehler!
Mit dieser Erklärung im Hinterkopf wird deutlich, warum das erste „Simpsons“-Videomaterial für die Macher ein solches No-Go war. Einflüsse gewöhnlicher Zeichentrick-Stile schimmern etwa in verzerrten Gesichtern, gummiartig zuschlagenden Türen oder der Fred-Feuerstein-artigen Gestaltung und Animation von Homer durch. Über diese Grundlagen der Animation kam es damals zu einer Auseinandersetzung zwischen Brooks und Klasky-Csupo-Chef Gabor Csupo, der behauptete, dass nicht die Qualität der Animation, sondern des Drehbuchs das wahre Problem sei.
Doch es sind nicht einmal allein die Animationen, die in der unausgestrahlten Fassung von „Der Babysitter ist los“ nicht passen. Auch die Hintergründe sind detailarm und inkonsistent gezeichnet und hinzu kommen noch zahlreiche Fehler und Unstimmigkeiten. Wer sich auf die Suche machen möchte, kann im obigen YouTube-Video einmal die Wiedergabegeschwindigkeit auf die Hälfte oder ein Viertel reduzieren. Auch ein Vergleich zwischen Szenen aus der ursprünglichen und der überarbeiteten Fassung der Folge ist sehr aufschlussreich – ein solches Video ist aktuell auf YouTube leider nicht verfügbar. Für „Simpsons“-Fans ist ein (manueller) Vergleich zwischen beiden Versionen aber überaus interessant. Und wer weiß, vielleicht tauchen irgendwann weitere Szenen aus der unveröffentlichten Fassung auf?
Die bestanimierte Simpsons-Szene aller Zeiten
Am Ende dieser Reportage möchten wir auf eine besondere Sequenz aus „Der Babysitter ist los“ zu sprechen kommen. Wie schon gesagt, ist die finale Episode ja ein Resultat der Zusammenstellung aus altem und neuem Material, weshalb die Qualität sehr ungleichmäßig ist. So finden sich auch einige Szenen, die zwar offensichtlich aus dem Pilotentwurf stammen, in dem 2001 veröffentlichten Zusammenschnitt aber nicht zu sehen waren. Eine davon ist jene Szene, in der die Babysitterin Mr. Botz Bart bedroht.
Schaut man sich diese Szene Bild für Bild an, so fällt auf, dass jedes Einzelbild von Mr. Botz' Animation völlig neu gezeichnet worden ist. Dies ist nicht nur innerhalb der Folge, sondern in diesem Ausmaß wohl innerhalb der gesamten Serie absolut einmalig. Die Bewegung ist ungemein organisch und flüssig und reicht fast an alte „Disney“-Klassiker heran. Diese Animation stammt von einem erfahrenen Animator namens Dan Haskett, der an vielen bekannten Projekten mitgewirkt hat, unter anderem auch bei Disney.
Gesprochen hat Mr. Botz in der englischen Version die amerikanische Schauspielerin Penny Marshall, die somit formal der erste „Simpsons“-Gaststar war und genau am 29. Geburtstag der Serie, am 17. Dezember 2018, verstarb. Für die „Simpsons“-Pilotfolge hat Dan Haskett nun Marshalls Vertonung, die er übrigens für sehr flach und misslungen hielt, in der Animation enorm viel Ausdruck verliehen. Neben dieser Szene war Haskett auch für die ursprüngliche Fassung des Tanzes von Homer und Marge zuständig. Dieser schaffte es aber nicht in die finale Version, da er nicht den Vorstellungen der „Simpsons“-Chefs entsprach, denen ein steifer und ungeschickter Tanz vorschwebte.
https://www.youtube.com/watch?v=n3dqwTEfliU
Wir könnten noch viele Worte über die faszinierende frühe Fassung von „Der Babysitter ist los“ verlieren. Es ist eine sehr interessante Episode der Zeichentrickgeschichte, die, obgleich „Die Simpsons“ weltberühmt sind, verhältnismäßig wenig bekannt ist. Viele Hintergründe sind noch nicht hinreichend beleuchtet. Was für eine große Marke mit großem gesellschaftlichen Einfluss daraus werden sollte, hätte 1989 sicher niemand gedacht. Und noch 30 Jahre später sind „Die Simpsons“ lebendig und beliebt – auch wenn es immer wieder Gerüchte um die Einstellung der Serie gibt und viele alte Fans seit Jahren eine stetige Abnahme in der Serienqualität kritisieren. Nichtsdestotrotz sind „Die Simpsons“ eine lebende Legende – und vielleicht tut es anlässlich des Jubiläums einmal gut, sich die allerersten Folgen (wieder) zu Gemüte zu führen.
Zur Geschichte hinter der ersten „Simpsons“-Folge gibt es nicht viele Quellen. Die nach wie vor wichtigste ist der Audiokommentar zu „Der Babysitter ist los“, veröffentlicht auf der offiziellen DVD zur ersten Serienstaffel. Der Kommentar war die Hauptquelle dieses Artikels.
Zum Abschluss dieser Reportage stellen wir noch einige besonders „interessante“ Frames aus der unausgestrahlten Pilot-Episode vor:
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Und als Bonus noch ein paar Standbilder: