Im zweiten Teil unserer Reportage zum 30. Jubiläum des SNES-Klassikers „Super Metroid“ werden uns unter anderem ein stinkender Pausenraum, ein wütender und dann besänftigter Abteilungsleiter sowie der bleibende Einfluss des Spiels beschäftigen. Beginnen wir aber mit einer Phase der Entwicklung, in der Samus noch nackt zu sehen war.
Die nackte Kanone
Samus’ Stimme ist in „Super Metroid“ nicht zu hören, doch in einer früheren Fassung des Spiels war das anders: Samus sollte einen Schrei von sich geben, wenn sie stirbt. Komponistin Minako Hamano sollte der galaktischen Kopfgeldjägerin dazu ihre Stimme leihen. „Als wir eine Probe vor dem Mikrofon gemacht haben, habe ich einige Male gesprochen“, erinnerte sich Hamano zurück. „Ich war nicht gut und habe völlig versagt.“ Wie ihr Kollege Kenji Yamamoto erklärte, war aber nicht unbedingt fehlendes Talent der Grund dafür, dass Hamanos Aufnahmen verworfen wurden: „Es klang zu sexuell, daher konnten wir es nicht verwenden.“ Interessanterweise konnte im Spielcode aber eine Sprachaufnahme aufgespürt werden, die zur Game-Over-Animation gepasst hätte. Auch wenn nicht bekannt ist, ob diese Aufnahme von Hamano stammt, können wir so noch einen Eindruck von Samus’ ursprünglich vorgesehener Stimme erhalten.
Doch die Geräusche, die Samus in ihrer Todesstunde von sich gibt, waren nicht das einzige Element, das die Entwickler wegen möglicher sexueller Konnotationen lieber wieder aus dem Spiel entfernten. „In der ersten Phase der Entwicklung war sie nackt“, verriet Grafiker Toru Osawa. „Man kann sie für einen Frame nackt sehen. Wir haben sie in einen Badeanzug gesteckt, aber es gab einen unterschwelligen Effekt für einen Moment, als man sie für einen Frame nackt sehen konnte.“ Bei näherem Überlegen habe man dies jedoch gestrichen, „denn diese Art von Dingen wird in Amerika als schrecklich empfunden“, wie Director Yoshio Sakamoto lachte.
Auf den letzten Drücker
Die zweieinhalb Jahre für die Entwicklung von „Super Metroid“ waren eine lange Zeit. Das Projekt wurde größer als erwartet; Grafik und Ton nahmen am Ende so viel Raum ein, dass sich das Team gezwungen sah, von dem bis dahin angepeilten 12-Megabit-Modul auf eine doppelt so große Cartridge umzusatteln. Als das Spiel fast fertig war, nahm Sakamoto es mit nach Hause und gab es seiner Frau zum Probespielen. Ihre Rückmeldungen ließ Sakamoto in die weiteren Arbeiten einfließen, ohne dabei seinen Kollegen von diesem inoffiziellen Testspielen zu verraten.
In diesen letzten Phasen ist – für damalige Spiele nicht allzu unüblich – noch einiges an der Substanz von „Super Metroid“ geändert worden. Vorab-Screenshots aus Spielemagazinen zeigen zum einen kleinere Unterschiede, aber auch völlig unbekannte Kartenbereiche. Zum anderen weisen diese Bilder, die teils nur wenige Wochen vor Veröffentlichung des Spiels entstanden sind, darauf hin, dass Samus zunächst nur über einen Schuss mit kurzer Reichweite verfügte und wie im ersten „Metroid“ den Long Beam erst als separates Upgrade freischalten musste. In Anbetracht der Tatsache, dass das sorgfältig aufeinander aufbauende und wohldurchdachte Leveldesign eines der Herzstücke des Metroidvanias ist, dürfte es außerdem verwundern, dass die Weltkarte von „Super Metroid“ erst im Januar 1994 und damit nur gut einen Monat vor Abschluss der Arbeiten finalisiert worden ist.
Knochenjob
Die Arbeitsbedingungen in diesen letzten Entwicklungsphasen waren verheerend. „Wir waren angespannt, konnten nicht schlafen, nicht nach Hause gehen und nicht einmal ein Bad nehmen. Es hat gestunken!“, drückte sich Osawa deutlich aus. „Die Arbeit hörte nie auf. Am nächsten Tag ging es wieder von vorne los.“ In einem anderen Interview unterstrich Sakamoto diesen Eindruck: „Manchmal wussten wir gar nicht mehr, wann wir zuletzt geschlafen hatten.“ Und „natürlich“ habe man auch am Weihnachtsabend gearbeitet, wie Yamamoto ergänzte.
In fast allen Interviews mit dem Entwicklungsteam kam ein besonders unangenehmer Aspekt zur Sprache, der sich offensichtlich allen Beteiligten fest eingebrannt hat: ein kleiner, stinkender Aufenthaltsraum. „Es waren immer zwischen zehn und fünfzehn von uns die Nacht über im Büro“, erinnerte sich Sakamoto, „daher mussten wir abwechselnd ein Nickerchen machen.“ Da der kleine Pausenraum, der dem Team dafür zur Verfügung stand, somit ständig in Benutzung war, konnte er nicht gesäubert werden. „Eines Morgens kamen Mitarbeiter aus einem anderen Bereich, um uns zu wecken“, fuhr Sakamoto fort, „und sagten uns, dass der Raum wie ein Zoo stinkt. Ein anderer Nintendo-Mitarbeiter stellte einen Raumerfrischer in den Schlafraum, aber das machte den Gestank nur noch schlimmer. Alle bei Nintendo haben uns schräg angeschaut.“
Entgrenzter Enthusiasmus stößt auf echauffierten Chef
Solch extreme Crunchphasen sind gerade in den ersten Jahrzehnten der Spieleindustrie nicht allzu ungewöhnlich. Sakamoto und Yamamoto legten aber Wert darauf zu betonen, dass dies im Falle von „Super Metroid“ weniger mit Druck von oben zusammengehangen habe als vielmehr mit dem Enthusiasmus des Teams. Sakamoto zufolge „waren alle im Team besessen davon, alles immer noch besser zu machen. Niemand wollte Kompromisse eingehen.“ Yamamoto pflichtete ihm bei: „Stimmt. Wir wollten es jeden Tag noch etwas besser machen als am Vortag.“
R&D1-Abteilungsleiter Gunpei Yokoi, der nicht direkt an der Entwicklung beteiligt war, versuchte diesen Enthusiasmus sogar zu zügeln. „Herr Yokoi sagte immer wieder: ‚Wir sind doch hier nicht in der Kunstgalerie! Wie lange soll das denn noch dauern?!‘“, so Sakamoto. In einem anderen Interview formulierte der Director: „Yokoi-san […] war immer wütend, wenn er uns alle komplett versunken und wie verrückt Überstunden für ‚Super Metroid‘ machen sah. Er kam herein und sagte: ‚Versucht ihr etwa, ein Kunstwerk zu erschaffen oder so?‘“ Der unter anderem als Mentor von Shigeru Miyamoto sowie für den Game Boy berühmte Nintendo-Veteran sei Tag für Tag wütender geworden auf das nicht enden wollende Projekt. Er habe dem Produzenten Makoto Kano gegenüber sogar eine Warnung ausgesprochen, auch wenn das Entwicklerteam dies damals nicht mitbekommen habe.
Eine plötzliche Erlösung
Auch nach gut zweieinhalb Jahren Arbeit mit einem für die damalige Zeit relativ großen Entwicklerteam und trotz einer extremen Crunchphase sowie Yokois wachsendem Unmut war kein Licht am Ende des Tunnels in Sicht. Der Abschluss des Projekts kam, wie sich Yamamoto erinnerte, sehr abrupt: „Das Ende war ewig nicht in Sicht. Und eines Tages rief Herr Kano plötzlich: ‚Los, wir machen jetzt den Master! Es ist so weit! Wir sind fertig!‘“ Dies war eine schockierende und erlösende Anweisung zugleich, wie an Sakamotos erinnerter Reaktion deutlich wird: „Als ich das hörte, war ich erst wie betäubt. Und später bin ich dann in Tränen ausgebrochen.“
Übrigens zeigte sich auch Yokoi am Ende versöhnt, wie Sakamoto schilderte: „Obwohl er sehr unzufrieden mit uns war und selbst obwohl er nicht der Typ war, der Lob austeilte, spielte Yokoi-san ständig ‚Super Metroid‘, als wir es fertiggestellt hatten – er war gefesselt.“ Auch langfristig hielt Yokoi große Stücke auf das Spiel, wie Sakamoto fortfuhr: „Wenn andere Entwickler ihre Actionspiele zu Nintendo brachten, verglich er sie immer mit ‚Super Metroid‘ und legte den Third-Party-Entwicklern schlussendlich immer nahe, zu gehen und ‚Super Metroid‘ zu spielen.“
Unerreichte Missionsziele
Bei praktisch jedem Videospiel gibt es Ideen, die die Entwicklerinnen und Entwickler nicht realisieren konnten, und „Super Metroid“ ist da natürlich keine Ausnahme. In Interviews haben die Mitwirkenden zwar nichts in dieser Richtung verlauten lassen, einige Hinweise haben sich aber in den Spieldaten erhalten. Unter anderem konnten dort Daten für mehrere ungenutzte Gegner ausfindig gemacht werden, die überwiegend sogar noch funktionstüchtig sind.
Interessant sind auch Daten, die Rückschlüsse auf eine verworfene Möglichkeit im Leveldesign zulassen. Demnach sollte es ursprünglich Blöcke geben, die solide aussehen und weder von Gegnern noch von Geschossen durchdrungen werden können, die Samus aber durchqueren kann. Solche nur scheinbaren, allein für Samus durchlässigen Wände hätten sich insbesondere für versteckte Gänge angeboten. Warum diese Idee nicht umgesetzt wurde, ist nicht bekannt, die Daten sind aber verborgen in jeder Kopie des ROM enthalten und noch komplett funktional.
Samus hilft dem SNES auf die Sprünge
Am 19. März 1994 kam „Super Metroid“ in Japan für das Super Famicom auf den Markt. Ab dem 18. April war es in Nordamerika für das Super Nintendo Entertainment System (SNES) erhältlich, während sich der europäische Markt noch bis zum 28. Juli gedulden musste. Das Spiel erschien in einer Zeit, in der sich Nintendo mit dem SNES immer stärker durch die Konkurrenz in Form des Sega Mega Drive einerseits und der anstehenden, auf 3D-Grafik spezialisierten Konsolen wie der PlayStation andererseits bedrängt sah.
Als eines der düstersten und „erwachsensten“ Nintendo-Spiele der damaligen Zeit zeigte „Super Metroid“, dass es nicht richtig war, das SNES als bloße Kinderkonsole abzustempeln. So konnte Samus der 16-Bit-Konsole im Verbund mit „Donkey Kong Country“, das im November 1994 erschien, zu neuem Aufwind verhelfen. Insgesamt verkaufte sich das neue Spiel Schätzungen zufolge um die 1,42 Millionen Mal. Damit aber blieb es hinter seinen beiden Vorgängern zurück.
Die ersten Wertungen trudeln ein
Die Kritiken fielen rosiger als die Verkaufszahlen aus. „Das beste Action-Adventure der Videospielgeschichte: Größer als ‚Zelda‘, überraschender als ‚Mario‘ und fesselnder als jeder Kino-Thriller“, urteilte die Zeitschrift Man!ac in ihrer 7/94-Ausgabe und zückte eine 95-%-Wertung. Weiter führte die Zeitschrift aus: „Ihr seid eins mit dem Bildschirmhelden, lebt, leidet und siegt mit Samus Aran. […] Das Zusammenspiel von Überraschung, Freude, Wut, Angst und gnadenloser Faszination könnte nicht brillanter sein.“
Etwas verhaltener waren die Power Play 7/94 mit ihrer 80-%-Wertung und die ASM 10/94 mit einer 10/12-Wertung, zeigten sich aber ebenfalls beide sehr überzeugt vom dritten „Metroid“-Teil. Die Video Games 6/94, ebenfalls eine Spielspaß-Wertung von 80 % verleihend, störte sich zwar ein wenig an dem, was heute als typisches Metroidvania-Gameplay angesehen wird: „Was mich ein wenig nervt, ist die Tatsache, daß sich erst durch bestimmte Items verschlossene Türen in den Anfangsabschnitten öffnen lassen.“ Dennoch lobte die Zeitschrift den „sehr intelligente[n] Level-Aufbau und das ausgezeichnete Ambiente“.
Ein stilbildender Klassiker
Viele Funktionen und Eigenarten von „Super Metroid“ sollten bald schon zum Genre-Standard gehören. Besonders maßgeblich war die jederzeit eingeblendete Mini-Karte, die automatisch entsprechend dem Spielfortschritt weiter ausgefüllt wurde. Insgesamt prägte „Super Metroid“ wie kein anderes Spiel abgesehen von „Castlevania: Symphony of the Night“ (PlayStation/Saturn 1997) das Subgenre der Metroidvania-Spiele, deren Beliebtheit insbesondere in der Indie-Szene der letzten Jahre unübersehbar ist.
Oft kopiert, aber selten überboten ist „Super Metroid“ einer jener Klassiker, die nahe an der Perfektion sind. Wohl auch aus diesem Grund hat es in den 30 Jahren seit der Veröffentlichung kein offizielles Remake gegeben. Dafür hat Nintendo das Spiel in seiner originalen 16-Bit-Fassung mehrfach wiederveröffentlicht, und zwar auf alle möglichen Arten und Weisen von der Virtual Console über das Nintendo Classic Mini: Super Nintendo Entertainment System bis hin zum Abo-Service Nintendo Switch Online.
Kopfgeldjägerin im Ruhestand?
Wie wir zu Beginn der Reportage gesehen haben, war „Super Metroid“ schon von Anfang der Entwicklung an als Abschluss der Reihe geplant. „Ich denke, dass die Serie im Grunde genommen abgeschlossen ist“, erklärte Sakamoto denn auch in einem zeitgenössischen Interview. „Die Metroids waren ja von vornherein dazu bestimmt, ausgerottet zu werden. Also wollte ich sie [die Reihe] in der schönsten Form zu Ende bringen.“ Angesprochen auf die Zukunft von Protagonistin Samus, gab Sakamoto damals das folgende vage Statement ab: „Das kann ich jetzt noch nicht genau sagen, aber ich glaube, ich möchte sie zur Hauptfigur in einem Actionspiel machen.“
Ob der „Metroid“-Director damals an einen neuen Teil der Hauptreihe oder an ein Spin-off dachte, lässt sich nicht sagen; infolge der schlechten englischen Übersetzung des ursprünglich japanischen Interviews ist die Aussage vermutlich nicht richtig überliefert. Wie dem auch sei: Nach „Super Metroid“ hat die Kopfgeldjägerin, anders als etwa ein gewisser rotbemützter Klempner oder ein spitzohriger Held mit grüner Zipfelmütze, einige Jahre lang Pause eingelegt. Das dürfte nicht zuletzt auch mit den nicht allzu überwältigenden Verkaufszahlen zusammengehangen haben.
Zur N64-Zeit gab es vage Ideen und Pläne für ein neues „Metroid“, die aber schnell wieder aufgegeben wurden. Ein Comeback erlebte die Reihe erst 2002, dafür aber gleich ein doppeltes: Mit dem intern entwickelten 2D-Teil „Metroid Fusion“ für Game Boy Advance und dem von den Retro Studios produzierten 3D-Titel „Metroid Prime“ für GameCube kehrte Samus unter tosendem Beifall zurück. Auf ein weiteres brandneues 2D-„Metroid“ mussten Fans aber lange warten. Erst 2021 kam nach einer wahren Entwicklungs-Odyssee (wir berichteten in „Inside Nintendo 191“) „Metroid Dread“ für Nintendo Switch auf den Markt – das erst zweite völlig neue 2D-„Metroid“ seit dem SNES-Ableger vor 30 Jahren!
Der bleibende Reiz
Was ist es letztlich, wodurch sich „Super Metroid“ seinen festen Platz in den Annalen der Videospielgeschichte gesichert hat? Ist es die handwerkliche Qualität? Die vollkommene 16-Bit-Grafik und -Akustik? Die gelungene, ebenso bedrohliche wie einsame Atmosphäre? Der Umstand, dass das Spiel mit die Blaupause für das Metroidvania-Subgenre geliefert hat?
Lassen wir in dieser Frage noch einmal Director Sakamoto zu Worte kommen: „[W]enn ich eine Vermutung anstellen müsste, was den bleibenden Reiz ausmacht“, so fachsimpelte er in einem Interview von 2010, „dann ist es vielleicht der Eindruck, den die Dramatik des Spiels bei den Leuten hinterlässt. […] All diese dramatischen Momente sind mit den starken Gefühlen verbunden, die Menschen in Bezug auf Beziehungen haben, und das hinterlässt einen ziemlichen Eindruck bei ihnen. Ich denke, wenn das Spiel einen bleibenden Reiz ausübt, dann liegt das an dem tiefen Eindruck, den diese Art von Dingen hinterlässt.“
Quellen: Umfangreiches Interview mit dem Entwicklerteam im offiziellen japanischen Lösungsbuch, übersetzt von Metroid Database; „Everything you always wanted to know about Samus“, Interview mit Yoshio Sakamoto, Game Players 7/5, Mai 1994, S.18–20; TJ Rappel: „Exclusive Interview With Dan Owsen“, Metroid Database, 1998; Interview mit Programmierer Yasuhiko Fujii von 2007, übersetzt von shmuplations.com; Christian Nutt: „The Elegance Of Metroid: Yoshio Sakamoto Speaks“, Gamasutra, 23. April 2010; „Nintendo Classic Mini: SNES – Entwicklerinterview Teil 3: ‚Super Metroid‘“, Nintendo, 28. September 2017; Jonti Davies: „The making of Super Metroid: Looking back at the origins of an all-time classic“, Gamesradar, 15. Oktober 2021 (Wiederveröffentlichung eines Retro-Gamer-Artikels); The Cutting Room Floor.
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