Inside Nintendo 78: Der Virtual Boy – die Story hinter Nintendos größtem Flop (Teil 2)

Die zweifelhafte Auszeichnung für die erfolgloseste Nintendo-Konsole geht nicht an die Wii U – sondern an eine Konsole, die so ungewöhnlich, so undurchdacht und so kurzlebig war, dass sie glatt einfach übersehen wird: der Virtual Boy. Das Gerät von Game-Boy-Schöpfer Gunpei Yokoi rühmte sich 1995 als erste Konsole mit 3D-Effekt, avancierte aber zu einem berühmt-berüchtigten übelkeitsinduzierenden Misserfolg. Für euch enthüllen wir nun, wie der Virtual Boy von der futuristischen Virtual-Reality-Brille zum skurrilen Handheld-Tabletop-Mischling degradiert wurde, warum er tatsächlich am Markt scheiterte, und welche Auswirkungen das auf Nintendo hatte.

Nachdem es im ersten Teil der Reportage darum ging, warum der Virtual Boy zu dem geworden ist, was er ist, beleuchten wir nun sein Scheitern am Markt, seinen Einfluss auf Nintendo und Weiteres. Viel Spaß!

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Nomen est omen, Seeing is Believing

Der Projektname der Konsole lautete VR32; der amerikanische Co-Entwickler und Technologie-Erfinder Reflection bezeichnete das Projekt intern als Dragon Project, und ein weiterer Codename, Virtual Utopia Experience, findet sich noch in der mit VUE anfangenden Modellnummer der Konsole. Doch wer dachte sich den finalen Namen aus? Wie sich herausstellt, geht der Name „Virtual Boy“ auf die Kappe von Nintendos Marketing-Abteilung. Die Kombination aus „Virtual Reality“ und „Game Boy“ mag Sinn ergeben, da es sich um eine semi-portable Konsole des Game-Boy-Erfinders handelt, die als Virtual-Reality-Plattform beworben wurde. Doch da der Virtual Boy weder echtes VR bot noch ein richtiger Handheld war, rief dieser Name in erster Linie völlig falsche Erwartungen an die 3D-Konsole hervor.

Doch der Name ist zweitrangig: Vielmehr kommt es auf das eigentliche Produkt an. Bloß wie sollte der stereoskopische 3D-Effekt des Virtual Boy der Kundschaft nahe gebracht werden? Werbeanzeigen oder Fernsehspots konnten dem nämlich nicht gerecht werden. Um den Reiz des Virtual Boy zu begreifen, musste man ihn aus erster Hand erleben und selbst ausprobieren. Dadurch heimste sich das Gerät nicht gerade große Beliebtheit ein.

Nachdem er monatelang als VR32 in den Meldungen der Videospielmagazine herumgeisterte, wurde der Virtual Boy auf der Nintendo Space World im November 1994 endlich der Öffentlichkeit enthüllt. Im Januar 1995 erfolgte auf der Consumer Electronics Show auch die Vorstellung für Amerika. Die Resonanz fiel gemischt aus. Das Magazin Next Generation etwa postulierte im März 1995: „Entweder ist Nintendo komplett verrückt geworden oder hält die Zukunft der Videospiele für plump, rot und wahrscheinlich Kopfschmerzen hervorrufend“.

Langweiliges Line-up: „Mario Bros.“, „Punch-Out“ und „Pinball“

Hinzu kommt, dass das Spiele-Line-up für beide Messen eher dürftig war. Während der „Mario Bros.“-Abklatsch „Mario Clash“ und die Box-Simulation „Telero Boxer“ immerhin einen sinnvollen 3D-Effekt bieten und letzteres sogar aus der Ego-Perspektive gespielt wird, war „Galactic Pinball“ einfach zu generisch für eine neuartige Konsole wie den Virtual Boy. Doch ausgerechnet die Flipper-Simulation avancierte zu so etwas wie dem Vorzeigeprojekt für den Virtual Boy.

Auch „Mario's Tennis“, das im Bundle mit der Konsole erschien, konnte am mauen Line-up nichts ändern: Aufgrund der kruden Technik waren ambitionierte neue Ideen einfach kaum umsetzbar. Die ersten Spiele für die Konsole entwickelte R&D1 zusammen mit dem Nintendo-Studio Intelligent Systems, und von völlig neuen Spielkonzepten war schlicht und ergreifend nichts zu sehen. Erst zögerlich öffnete Nintendo die Plattform für Dritthersteller.

Ist der Blick in die Displays des Virtual Boys schädlich? (Bildquelle)

Nicht für Kinderaugen bestimmt

Der Virtual Boy war die welterste 3D-Konsole – da war es natürlich, dass Nintendo sich fragte, welchen Einfluss das Ganze auf den Sehsinn hat. Obwohl der familienfreundliche Konzern das System so sicher wie möglich konstruierte und wissenschaftliche Untersuchungen keine Risiken ans Tageslicht brachten, versah das Unternehmen die neue Konsole mit einer Vielzahl an Warnhinweisen. Kleine Kinder sollten die Konsole eher meiden und auf Wunsch wird man alle 15 bis 30 Minuten darauf hingewiesen, eine Pause einzulegen.

Obwohl der Virtual Boy langfristig keine Schäden hervorrufen soll, waren diese Maßnahmen nur verständlich, ruft das Gerät doch bei vielen Spielern schon nach kurzer Zeit Kopfschmerzen und Übelkeit hervor. Hinzu kamen noch die Gefahren durch die vollständige Isolation von der Außenwelt. Allerdings bauschte die japanische Presse die trotzdem an und für sich ungefährliche Konsole wegen ihrer vielen Sicherheitswarnungen zu einer für Kinderaugen schädlichen Gerätschaft auf.

Nintendos größter Flop

Ein närrischer Name, ein kurioses Konzept, ein desaströses Design, gestrige Grafik und misslungenes Marketing. Zu all dem gesellte sich jetzt die Falschannahme, dass das Gerät auch noch gesundheitsgefährdend sei. Kein Wunder, dass sich der Virtual Boy als Ladenhüter erwies, als er am 21. Juli 1995 auf den japanischen Markt kam.

Auch zur Markteinführung in den Vereinigten Statten gab es weitere Probleme. Die Veröffentlichung am 14. August 1995 überschnitt sich mit dem Erscheinen von Windows 95, das Computer endgültig reif für Videospiele machte. Im September erschien die PlayStation, im November enthüllte Nintendo das N64 – inmitten dieser harten Konkurrenz konnte die altbackene Möchtegern-Revolution keinen Blumentopf gewinnen. Auch der relativ hohe Preis von 180 US-Dollar, ein Vielfaches von dem, was der Game Boy inzwischen kostete, begünstigte die Situation nicht.

Von den angepeilten drei Millionen Verkäufen in Japan während des ersten Jahres war der Virtual Boy meilenweit entfernt. Dieses zutiefst optimistische Ziel konnte er auch gar nicht erreichen, denn weil die Konsole trotz einer Preishalbierung zu Weihnachten und weiteren Reduzierungen in den Regalen liegen blieb, nahm Nintendo sie im Dezember 1995 in Japan still und heimlich vom Markt. In Nordamerika war die Konsole etwas länger erhältlich, im August 1996 ließ Nintendo sie hier auslaufen. In dem einen Jahr auf dem Markt verkaufte sich der Virtual Boy bloß 1,2 Millionen Mal (laut einer anderen Angabe sogar bloß 770.000 Mal). Mit bloß 150.000 Verkäufen in Japan war die Konsole in Amerika beliebter als in ihrem Heimatland.

„Mario Clash“ war ursprünglich nur ein Minispiel innerhalb eines großen neuen „Mario Land“-Spiels. Das kam jedoch nie auf den Markt. Stattdessen erschien „Clash“ als eigenständiger Titel.

Keine Europa-Veröffentlichung

In Europa brachte Nintendo den Virtual Boy gar nicht erst heraus. Auch sonst wurden wegen des unvorhergesehen schnellen Markttods viele der angekündigten Pläne nie in die Tat umgesetzt. Ein Linkkabel, das einen Zweispieler-Modus ähnlich wie beim Game Boy ermöglichen sollte, kam genauso wie eine versprochene Schulterbefestigung nie heraus. Nintendo selbst als auch die Dritthersteller ließen ihre Unterstützung rasch fallen, dutzende Spieleprojekte wurden abgebrochen, darunter etwa ein neues „Star Fox“. Wer die gesamte Softwarebibliothek einer Spielekonsole sammeln möchte, sollte mit dem Virtual Boy beginnen: Exakt 22 Spiele sind jemals für Nintendos erfolgloseste Konsole erhältlich gewesen. Die Liste abgebrochener Spiele ist länger als die der veröffentlichten!

Tragische Folgen

Vielfach heißt es, Nintendo habe Gunpei Yokoi für dem Misserfolg seines neuen Projekts verantwortlich gemacht und ihn dazu gedrängt, Nintendo zu verlassen. Das stimmt aber nicht: Yokoi hatte geplant, mit 50 Jahren seinen Posten bei Nintendo zu räumen, um wieder selbständiger tüfteln zu können. Tatsächlich verließ er unter anderem gerade wegen des vielversprechenden Virtual Boy das Unternehmen erst fünf Jahre später. Anschließend gründete Yokoi das Unternehmen Koto, verstarb jedoch im Oktober 1997 nach einem Autounfall. Dass dies oft fälschlicherweise mit dem Flop-Fiasko in Zusammenhang gebracht wird, schädigte das Image der Konsole weiter.

Für Nintendo hatte das Debakel keine sonderlichen Auswirkungen, war der Virtual Boy doch letztlich nicht mehr als ein Tropfen auf dem heißen Stein. Für Reflection Technology, dem kleinen Unternehmen hinter dem VR-Bildschirm, sah das aber ganz anders aus. Das amerikanische Start-up hatte alles auf das Projekt gesetzt und steckte mit dessen Scheitern nun in Finanznöten. Abseits des Virtual Boy kommt die SLA-Display-Technik bloß im FaxView zum Einsatz, einem mobilen Fax-Gerät von Reflection, das ebenfalls kein Erfolg wurde. Unternehmensgründer und SLA-Erfinder Allen Becker indes verstarb am 14. Oktober 2001 überraschend infolge einer geplatzten Arterie.

15 Jahre nach dem Virtual Boy gelang es Nintendo doch noch, 3D-Zocken salonfähig zu machen.

Der Traum vom 3D-Zocken lebt weiter

Man könnte meinen, das Debakel um Nintendos erste 32-Bit-Konsole habe das Unternehmen zu einem großen Bogen um 3D-Technik veranlasst. Allerdings experimentierte der Mario-Konzern auch nach dem Virtual Boy weiter mit 3D-Displays ohne Brille, etwa für den GameCube oder den Game Boy Advance SP, wobei diese Experimente nie das Tageslicht erblickten. Interessant ist, dass bereits 1987 eine 3D-Brille für das Famicom erschienen war, für die Nintendo etwa das Rennspiel „Famicom Grand Prix II: 3D Hot Rally“ entwickelte (übrigens das erste Projekt, an dem Miyamoto und Satoru Iwata zusammen arbeiteten).

Während der DS- und Wii-Ära verlor Nintendo stereoskopisches 3D wieder etwas aus den Augen, bis die Idee während einer Planungssitzung für das nächste Handheld-System wieder hochkam. Das Resultat ist der Nintendo 3DS, der seit 2011 brillenfreies 3D ermöglicht – völlig flexibel, völlig komfortabel, völlig verwöhnend. Von einem 3D-Trauma ist nichts zu sehen, im Gegenteil, der 3DS war und ist ein Verkaufsschlager.

Nintendos heutige Sicht auf den Virtual Boy: Selbstkritik und Eigenhumor

Den Virtual Boy behandelt Nintendo nach wie vor wie ein Schwarzes Schaf unter den eigenen Konsolen. Immerhin sind bis heute keine Virtual-Boy-Spiele in der Virtual Console des 3DS erschienen. Dabei könnten die eher obskuren Spiele dort ein viel größeres Publikum erreichen und Interessenten einen günstigen und einfachen Einblick gewähren. Und immerhin gibt es unter den 22 Spielen des Virtual Boy durchaus auch solche, deren Wiederveröffentlichung sehr wünschenswert wäre, etwa „Virtual Boy Wario Land“.

In einem „Iwata fragt“-Interview zur Veröffentlichung des 3DS besprachen Iwata, Miyamoto und „EarthBound“-Schöpfer Shigesato Itoi die Geschichte des Virtual Boy. Es war eine der seltenen Momente, in denen Nintendo die Existenz der Konsole nicht ignorierte. Die Nintendo-Legenden gaben eine interessante Sicht der Dinge kund: Der Virtual Boy sei ein Spielzeug gewesen in der Tradition älterer Yokoi-Tüfteleien, wie etwa die Ultra-Hand oder die Liebesmaschine. Für Spielzeug-Verhältnisse sei der Virtual Boy durchaus erfolgreich gewesen. Allerdings habe Nintendos Marketingabteilung den Fehler begangen, das Gerät auf Biegen und Brechen als große neue Konsole zu bewerben.

Es war die Art von Spielzeug, die einen begeistert und einem zeigt: „Das können wir heute alles tun!“ Ich dachte mir, dass Leute, die immer auf der Suche nach neuer Unterhaltungstechnik sind oder etwas mehr Geld erübrigen können, dieses Gerät kaufen würden, auch wenn es ein bisschen teurer ist. Leider behandelte die Welt die Einführung, als sei es ein Nachfolger des Systems Game Boy.


Wie aus diesem Zitat deutlich wird, hält Miyamoto den Virtual Boy für ein interessantes Spielzeug, das Nintendo nicht als Game-Boy-Nachfolger hatte vermarkten dürfen. Überraschend selbstkritisch gab der heutige Co-Chef des Unternehmens zu bedenken, Nintendo hätte „das System so genau wie möglich“ bewerben sollen, damit „jedem klar gemacht werden [konnte], dass es sich nicht um eine vollwertige Plattform handelt“. Weil Miyamoto zur Zeit des Virtual Boy noch nicht zur Leitungsebene des Konzerns gehörte, hatte er das jedoch nicht zu entscheiden.

Trauma überwunden: In „Tomodachi Life“ kann man den Virtual Boy als Item erstehen. Unvergessen ist dieser besonders selbstironische Ausschnitt der Nintendo Direct-Ausgabe zum Spiel im Juni 2014, in dem Iwata, Miyamoto, Reggie und Aonuma den Konsolen-Flop anbeten!

Vom futuristischen VR-Headset zur hinunterkompromittierten Möchtegern-Revolution, durch schlechtes und irreführendes Marketing sowie weitere unglückliche Zufälle zum Tod verdammt und dann auch noch missverstanden. Das ist die Geschichte hinter Nintendos größtem Flop. Doch gerade heute, 20 Jahre nach der Markteinführung, ist der Virtual Boy aktuell wie nie, wo sich doch der 3DS als Erfolg entpuppte und richtiges VR kurz vor dem Durchbruch zu stehen scheint.

Der Entwicklungsgeschichte hinter der Konsole ist zu entnehmen, dass Nintendo und Reflection ihrer Zeit einfach zu sehr voraus waren. Weder die Welt, noch die Technik, noch die beiden Unternehmen selbst waren für die so hoch gelobte Virtuelle Realität bereit. Schade, dass weder Yokoi noch Reflection-Gründer Becker noch leben, um die heutigen Entwicklungen erleben zu können. Zumindest hat der Virtual Boy inzwischen als Sammlerstück doch noch seinen Weg in einige Spielerherzen gefunden.

Quellen: Benj Edwards: Unraveling The Enigma Of Nintendo's Virtual Boy, 20 Years Later, Fast Company, 21. August 2015; Osamu Inoue: Nintendo Magic, 2010, S. 139–142; Iwata fragt: Nintendo 3DS, Teil 1: So ist der Nintendo 3DS entstanden
, Teil 2 und 3; Steve L. Kent: The Ultimate History of Video Games, 2001, S. 513–515, 518 f. Außerdem empfehlen wir die Website Planet Virtual Boy, deren ausführliche Info-Datenbank ebenfalls während der Entstehung dieses Berichtes zurate gezogen wurde.


In unserer jeden zweiten Sonntag erscheinenden Rubrik „Inside Nintendo“ berichten wir über die Geschichten hinter Spielen, Serien, Konsolen, Studios und Personen rund um Nintendo. Eine Übersicht aller bislang veröffentlichten Ausgaben ist unter diesem Link zu finden.

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Bisher gibt es einen Kommentar

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  • Avatar von Minato
    Minato 01.11.2015, 11:36
    Klasse Abschluss der Reihe, immer wieder interessant und erfreulich zu lesen.