XXIX. Seneca wünscht seinem Lucilius
Wohlergehen
[10] … «Niemals wollte ich der Menge gefallen:
was ich weiß, mißfällt der Masse, was die
Masse beifällig aufnimmt, kenne ich nicht.»
[11] «Wer sagt das?», fragst du, als wüßtest du
nicht, wessen ich mich bediene: Epikur. Aber
genau dasselbe werden dir alle aus jeder
Schule bezeugen: Peripatetiker, Akademiker,
Stoiker und Kyniker: wer kann eigentlich der
Masse gefallen, dem Rechtschaffenheit ein
Anliegen ist? Den Beifall der Masse gewinnt
man mit niederträchtigen Machenschaften:
du mußt dafür sorgen, daß du ihnen ähnlich
wirst; sie werden dich nicht akzeptieren, wenn
sie sich in dir nicht wiedererkennen. Es kommt
aber viel mehr darauf an, wie du auf dich
selbst wirkst als auf die anderen: man kann
die Liebe von Schändlichen nur durch
schändliche Haltung gewinnen.
[12] Was also wird jene hochgelobte und allen
Wissenschaften und Dingen vorzuziehende
Philosophie zuwege bringen? Natürlich,
daß du lieber dir gefällst als der Masse, daß
du Meinungen achtest, nicht dafürhältst, ohne
Respekt vor den Göttern und den Menschen
leben zu wollen, daß du Unheil überwindest
oder ihm ein Ende setzt. Übrigens:
wenn ich dich gefeiert sehe von beifälligem
Geschrei der Massen, wenn bei deinem Eintritt
Jubel und Beifall, Auszeichnungen wie
sonst nur für Schauspieler, aufbrausen, wenn
Frauen und Kinder dich in der ganzen Stadt
lobpreisen, wie sollte ich kein Mitleid mit dir
haben, wo ich doch weiß, welcher Weg zu so
einem Beifall führt.
Leb wohl!