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Super Mario 64 (VC)

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Natürlich war „Super Mario 64“ nicht das welterste 3D-Videospiel. Selbst der Titel des frühesten 3D-Jump’n’Runs geht nicht an das N64-Startspiel. Wohl aber hat das Klempnerabenteuer überzeugend und nachhaltig wie nie zuvor in der Videospielwelt die neue Dimension eröffnet. Umso erstaunlicher wird diese Leistung eingedenk der Tatsache, dass dem handerlesenen Entwicklerteam um Shigeru Miyamoto keine wirkliche Vorlage zur Verfügung stand. Ein Blick auf die Entstehung von Struktur und Konzept von „Super Mario 64“ wirft damit Licht auf eine wichtige Transformationsphase der Videospielgeschichte.


Nintendo nimmt Neuland unter den Pflug

Einen Masterplan zu Beginn gab es nicht. „Damals hatte Nintendo zuvor noch kein 3D-Spiel entwickelt, daher wusste ehrlich gesagt niemand so wirklich, was er machte“, berichtete Programmierer Giles Goddard. „Es wurde viel experimentiert, viel improvisiert.“ Durchaus hatte es aber Vorläufer gegeben. Das SNES-Spiel „Star Fox“, gemeinsam von Nintendo und Argonaut Games unter Mitwirkung von Goddard und Dylan Cuthbert entwickelt, hatten wir schon im ersten Teil der Reportage erwähnt. Einflussreich waren wohl auch zwei weitere Projekte, die im Umfeld des britischen Studios und des Super-FX-Chips in Arbeit waren: Das zunächst unveröffentlichte „Star Fox 2“, das auch Platformer-Elemente inkorporierte, sowie ein 3D-Jump’n’Run rund um Yoshi, das aber schon sehr früh eingestampft wurde und über das so gut wie nichts bekannt ist.

Ansichten eines Klempners

Mehrere Monate lang experimentierten die Entwickler zu Beginn mit unterschiedlichen Kameraperspektiven. Hatte man sich in 2D-Spielen kaum Gedanken um diesen Aspekt machen müssen, so musste sich das Team nun regelrecht den Kopf darüber zerbrechen. Dies hat wohl auch Miyamotos anfängliche Euphorie etwas gebremst, da er nach Projektbeginn „Tag für Tag ziemlich frustriert war“, wie Co-Director Yoshiaki Koizumi sagte. Von einer festgestellten über eine bewegliche Kamera bis hin zu einem System, bei dem die Kamerasteuerung vollständig in den Händen der Spielenden lag, wurde alles ausprobiert.

Zur Durchsetzung gelangte eine Kamera, die die Spielfigur eigenständig verfolgt und vom Spielenden durch Rotieren, Zoomen sowie alternative Blickwinkel gesteuert werden kann. Wie erklärungsbedürftig dieses System damals war, zeigt sich daran, dass Nintendo im Spiel die Illusion eines auf einer Wolke fliegenden Kameramann-Lakitus als veranschaulichendes Konstrukt erzeugte. Abgesehen von einigen Ecken und Macken, die aber auch ein Vierteljahrhundert später in 3D-Spielen zur Tagesordnung gehören, ist die Kameraprogrammierung in ihren Grundzügen erstaunlich gut gealtert.

Davon, dass das alles auch ganz anders hätte werden können, legt noch im fertigen Spiel die Option Zeugnis ab, die Kamera durch Knopfdruck zu fixieren – wohl ein Überbleibsel aus früheren Entwicklungsphasen. In Interviews fand auch eine Parallelkamera Erwähnung, die ähnlich wie in 2D-Spielen ausgefallen wäre. Dies hätte zwar eine sehr unkomplizierte Orientierung ermöglicht, aber nur im Rahmen eher linearer Levelkonzepte funktioniert. Die Idee verweist auf eine frühe Entwicklungsphase, in der das Spielkonzept noch keinen maßgeblichen Unterschied zu den vorhergehenden „Super Mario“-Spielen in 2D aufwies.

Für heutige Verhältnisse ist die Kameraprogrammierung von „Super Mario 64“ hoffnungslos veraltet, doch vor einem Vierteljahrhundert war sie ein technisches Meisterwerk, zu dessen Veranschaulichung Nintendo die Figur eines Kameramann-Lakitus im Spiel etablierte. Verantwortlich für die Kamera war Takumi Kawagoe, von Giles Goddard als „sehr, sehr guter Programmierer“ bezeichnet; später wirkte er unter anderem an den Videosequenzen mehrerer „Zelda“-Teile mit.

Von vorgegebenen Pfaden zu freiem Fährtenfolgen

Screenshots aus dieser spannenden Entwicklungsphase gibt es nicht; alles, was uns zur Verfügung steht, sind recht vage Interviewaussagen. „Einst hatte das Spiel einen festgelegten Pfad, fast eine Art isometrische Ansicht“, äußerte Goddard, und 2011 verriet ein späterer Nintendo-Entwickler unter Berufung auf Koizumi, dass ursprünglich auch in „Super Mario 64“ die aus den früheren Spielen bekannten Zielflaggen auftauchen sollten.

Vielleicht muss man sich diese Levelstruktur ähnlich den drei streng linearen Bowser-Leveln aus dem finalen Spiel vorstellen. Diese sind aber nicht einfach Überbleibsel aus früheren Projektphasen, sondern sollten das beklemmende Gefühl vermitteln, sich aus- und umweglos dem bösen Obermotz stellen zu müssen. Durchgesetzt hat sich stattdessen eine Spielstruktur, die eigentlich keine wirklich logische Evolution des „Super Mario“-Prinzips ist und Erkundung offener Welten und Bewegungsfreiheit großschreibt. Die Spannung zwischen Offenheit und Erkundung einerseits, Linearität und Action andererseits sollte für die Zukunft der Reihe ein zentrales und in Fankreisen kontrovers diskutiertes Thema werden und in so gegensätzlichen Grundausrichtungen wie der eines „Super Mario Odyssey“ (Switch, 2017) im Vergleich zu einem „Super Mario 3D World“ (Wii U, 2013) münden.

Freude an den einfachen Dingen

15 offen gestaltete, thematisch diverse Gebiete erwarten Spielerinnen und Spieler mit je sechs Missionen. Diese enden mit dem Erhalt eines Power-Sterns, derer es insgesamt im Spiel 120 gibt. Versteckte Geheimnisse spielten in der „Super Mario“-Reihe schon immer eine große Rolle, „Super Mario 64“ trieb dies aber auf die Spitze und schrieb dadurch ebenso Geschichte wie mit der frei erkundbaren Oberwelt, einer Weiterentwicklung der mit „Super Mario Bros. 3“ etablierten Weltkarte. Diese gelungene und wegweisende Formel scheint weniger das Produkt profunder Planung als vielmehr einer übergreifenden Zielsetzung der Entwickler gewesen zu sein: „Eines unserer großen Themen während der Entwicklung war es“, so Miyamoto, „die Spielenden Mario so umherbewegen zu lassen, wie sie wollten. Wir wollten ein Spiel machen, bei dem es bereits Spaß bereitet, Mario umherzubewegen.“

Der im Vergleich zu früheren Teilen stärkere Fokus auf Rätseln rührt daher, dass Kernmitglieder des Teams damals bereits Ideen für das spätere „Zelda: Ocarina of Time“ sammelten, von denen sie einige bereits direkt umsetzen wollten. So war etwa das Konzept des Schlosses, von dem aus die einzelnen Spielgebiete zu erreichen sind, ursprünglich für „Zelda“ vorgesehen. Das Power-up-System der Vorgänger wurde indes komplett umgeändert: Verwandlungen stehen Mario nun ausschließlich über die neu eingeführten Flügel- und Metallkappen zur Verfügung, während des Klempners Energie unabhängig davon durch eine Lebensleiste repräsentiert wird, die sich unter anderem durch das Einsammeln von Münzen wieder auffüllen lässt.

Interessanterweise hatte Miyamoto schon 1991 in einem Interview bezüglich Marios künftigem Aussehen in den Raum geworden: „Vielleicht wird er metallische Kleidung tragen!“ Auch Marios Flügel-Transformation geht wohl auf einen lange gehegten Wunsch der Entwickler zurück, denn im Gigaleak entdeckte Materialien offenbaren, dass sie ursprünglich schon für „Super Mario World“ geplant gewesen war.

Links: Konzeptzeichnungen zu „Super Mario 64“, veröffentlicht 2010 im Booklet zur „Super Mario Bros. 25th Anniversary Collection“. Viele dieser Ideen scheinen im Spiel nicht realisiert worden zu sein. Rechts: Auf März 1990 datierende Sprites aus der Entwicklung von „Super Mario World“, die in den Daten des Nintendo-Gigaleaks 2020 auftauchen und eine verworfene Idee veranschaulichen.

Vom souveränen Umgang mit den Gesetzen der Physik

Nicht nur des Klempners Kleider, auch sein Bewegungsrepertoire erfuhr weitreichende Neuerungen. „Als wir uns in ‚Super Mario 64‘ erstmals in den 3D-Raum begaben, wurde uns sehr bewusst, wie schwierig es ist, hier auf Gegner zu springen“, erklärte Koizumi in einem Interview von 2020. „Also erschufen wir viele neue Bewegungsmuster neben dem Springen, die von den 3D-Funktionen Gebrauch machen“. Mario kann nun Wandsprünge, Saltos, Hechtsprünge, Stampfattacken und vieles mehr vollführen; diese Aktionen lassen sich auch vielfältig miteinander kombinieren, wie etwa im Dreiersprung. Sogar durch Tritte und Schläge kann er sich diesmal gegen Gegner zur Wehr setzen; diese Aktionen waren eigentlich bereits im ursprünglichen Konzept des ersten „Super Mario Bros.“ vorgesehen.

Um Spielenden die so wichtige Abschätzung von Abständen zu erleichtern, verliehen die Entwickler sämtlichen in der Luft befindlichen Objekten und Figuren einen unabhängig von der eigentlichen Lichtquelle direkt auf den Boden fallenden Schatten. „Es mag nicht realistisch sein, aber so ist es viel einfacher zu spielen“, sagte Koizumi. Verallgemeinernd gab Hauptprogrammierer Yasunari Nishida zu bedenken: „Wenn man sich zu sehr an die eigentlichen Gesetze der Physik hält, wird es nicht wirklich ein gutes Spiel.“ Obwohl es also nicht um eine völlig realistische Rekonstruktion der Wirklichkeit ging, mussten sich die Designer und Programmierer intensiv wie nie zuvor mit Physik befassen: „Ich hätte nie gedacht, dass ich in meinem Alter erneut solche Dinge lernen muss“, so Miyamoto damals.

Miyamotos nächtliche Animationsvorführungen

In der virtuellen 3D-Welt von „Super Mario 64“ stellen Polygonmodelle das grafische Herzstück dar, auch wenn einige Elemente wie Bäume, Kugeln und runde Gegner weiterhin durch ressourcenschonende und weicher aussehende 2D-Sprites dargestellt werden. Für die Animationen der Spielfigur experimentierten die Entwickler zunächst sogar mit Motion-Capture-Technologie, die aber schlussendlich erst in „Ocarina of Time“ zum Einsatz kam. Stattdessen erstellte Co-Director Koizumi das Modell für Mario sowie dessen Animationen frei per Hand.

Auch auf diesen Aspekt seines Opus magnum legte Miyamoto großen Wert. Er scheute sich sogar nicht davor, die ihm vorschwebenden Bewegungen selbst vorzuführen, wie Koizumi in einer Anekdote erzählte: „Das war so gegen 2 oder 3 Uhr morgens, und die anderen Entwickler waren längst nach Hause gegangen. […] Dann zeigte er [Miyamoto] mir, wie Mario schwimmen sollte […]. Und schon lag er lang hingestreckt auf dem Tisch und machte diese Schwimmbewegungen.“

Insgesamt entwarf Koizumi eine überraschend große Anzahl an Animationen für Mario: Nishida, der sie alle einprogrammieren musste, sprach von 193 Stück, wobei noch etwa 50 Animationen hinzukämen, die nicht ins fertige Spiel übernommen worden seien. Der Antrieb für die große Anzahl an Aktionen und Animationen war laut Miyamoto, dass man geübte Spielerinnen und Spieler, die mit immer weiteren Tastenkombinationen experimentieren würden, nicht habe enttäuschen wollen. Giles Goddard zufolge lief dieser Prozess der Erstellung der 3D-Modelle infolge strenger Terminvorgaben sehr routiniert, ja fließbandartig ab; es seien meist keine großen nachträglichen Änderungen an eingepflegten Grafikelementen mehr vorgenommen worden.

In einem Interview von 1996 benannte Miyamoto das Robotermädchen namens Arale aus dem Manga „Dr. Slump“ von „Dragon Ball“-Schöpfer Akira Toriyama als Inspiration für die Bewegungen von Mario aus „Super Mario 64“. Sämtliche 209 Animationen, die im Spielcode enthalten sind, wurden zusammengetragen im Video unter diesem Link.

Schmerzvolle Trennung der Gebrüder

Einige frühere Versionen der 3D-Modelle hat 2020 der Gigaleak ans Tageslicht gebracht – darunter als wohl spektakulärsten Fund ein auf den 20. Juni 1995 datierendes Modell des Mario-Bruders Luigi. Wie in Teil 1 des Berichts gesehen, waren Mario und Luigi die Figuren in einem frühen Prototyp des Projekts „Ultra 64 Mario Brothers“. Warum aber wurde Luigi schließlich restlos aus dem Spiel gestrichen, sodass sich alle Gerüchte, Legenden und Mythen, wie man ihn freischalten oder ihm begegnen könne, als falsch herausstellten?

Wie in einigen früheren „Mario“-Spielen war Luigi zunächst für einen Zweispielermodus vorgesehen. Anders als zuvor aber sollten die Gebrüder diesmal nicht rundenweise abwechselnd, sondern gleichzeitig die Welten unsicher machen. „Sie waren auf geteiltem Bildschirm zu sehen und sie gingen sogar getrennt in das Schloss hinein“, beschrieb Miyamoto eine entsprechende frühere Version von „Super Mario 64“. „Wenn sie im Korridor aufeinandertrafen, war ich immer glücklich!“ Auch habe man mit einem Modus experimentiert, in dem Mario und Luigi auf einem gemeinsamen Bildschirmausschnitt zu sehen waren; die optionale verankerte, zoomende Kameraeinstellung im finalen Spiel sei ein Überbleibsel davon.

Als Grund für Luigis Streichung führte Miyamoto in einem Interview von 1996 Speicherprobleme an. Genaueres verriet Koizumi im Jahre 2013. Der Prototyp mit Mario und Luigi habe demnach noch keine ausgearbeiteten Umgebungen umfasst. „Aber als wir die Landschaften erstellten, mussten wir aufgrund von Hardware-Beschränkungen die Entscheidung fällen, entweder auf Luigi zu verzichten oder weniger ausgefeilte Landschaften zu entwerfen.“ Miyamoto brachte seine damalige Resignation 2020 in einem Interview zum Ausdruck: „Wir haben zwar erwartet, dass es Beschränkungen geben würde, doch was schließlich dabei herumkam, war noch weniger, als wir erwartet hatten.“ Immerhin war „Super Mario 64“ das allererste N64-Spiel; das Team lernte gerade erst die Fähigkeiten der Konsole kennen und stand zugleich unter großem Zeitdruck. Koizumi fuhr fort: „Und dann haben wir – unter Tränen – auf Luigi verzichtet.“

Gestrichene Funktionen mit Luigi und Yoshi

Seinen ersten Auftritt in einem 3D-„Super Mario“-Spiel durfte Luigi erst 2007 in „Super Mario Galaxy“ feiern. Den Traum von einem simultanen Mehrspielermodus konnte das Entwicklerteam 2009 in „New Super Mario Bros. Wii“, im 3D-Bereich sogar erst 2013 mit „Super Mario 3D World“ verwirklichen. Während der Entwicklung von „Super Mario 64“ wollte das Team Luigi dann wenn schon nicht im Hauptspiel, so doch wenigstens in einem Minispiel unterbekommen. Miyamoto sprach von einem Spielchen im Stile des Arcade-Automaten „Mario Bros.“ von 1983, in welchem Luigi, damals nicht mehr als ein grün gefärbter Mario, erstmals aufgetreten war. „Doch da die meisten Kunden wahrscheinlich nur einen Controller haben, wenn sie ihr N64 kaufen, – und aus anderen Gründen – haben wir uns dagegen entschieden.“

Im Februar 1996, also in einer fortgeschrittenen Entwicklungsphase, wurde Luigi endgültig aus dem Spiel gestrichen. Weniger bekannt ist, dass eine weitere beliebte Figur aus dem Pilzkönigreich beinahe ein ähnliches Schicksal ereilt hatte. „Ursprünglich gab es ein Ereignis mit Yoshi“, sagte Miyamoto, doch da die Entwickler nicht damit zufrieden gewesen seien, entfernten sie es wieder. Giles Goddard zufolge sei vorgeschlagen worden, Mario wie in „Super Mario World“ auf dem grünen Dinosaurier reiten zu lassen. „Da es aber Verschwendung wäre, das Modell nicht zu verwenden“, so Miyamoto, erhielt Yoshi einen Bonusauftritt nach dem Ergattern sämtlicher 120 Sterne von „Super Mario 64“.

Hier sind die einzelnen im Gigaleak enthaltenen Modelle und Texturen von Luigi zu sehen sowie die Rekonstruktion seines Modells einmal ohne Hintergrund und einmal in das Spiel integriert (Bilder von tcrf.net). Was das Entwicklerteam über Yoshi verraten hat, regt zu der Frage an, warum Luigi nicht wenigstens ein Cameo-Auftritt in „Super Mario 64“ vergönnt war, eben wie dem süßen Reittier. Vielleicht lag der Grund darin, dass Luigis Modell größtenteils auf jenem von Mario basierte, sodass die Entwickler weniger Aufwand damit hatten und eher dazu bereit waren, ganz auf es zu verzichten.

Von der Erschaffung der Welt in sieben Monaten

Miyamoto zufolge investierte das Entwicklerteam die Hälfte seiner Zeit und Energie in die Erstellung des zugrundeliegenden Spielsystems, mit dem wir uns bislang hauptsächlich befasst haben. „Was die Level und Gegner betrifft, diese kamen tatsächlich erst ganz am Ende. Sie wurden in einem einzigen Energieschwall gemacht, beinahe einfach zusammengeworfen.“ Nicht länger als sechs oder sieben Monate habe es bis zur Fertigstellung der insgesamt 15 Spielwelten gedauert, schätzte Giles Goddard. Manchen der Level, etwa Atlantis Aquaria, merkt man in der Tat an, dass sie nicht wirklich sorgsam am Reisbrett ausgeklügelte Welten mit eigener Thematik, sondern vielmehr recht zweckmäßige, wenn nicht sogar regelrecht zusammengewürfelte Ansammlungen einzelner Objekte und Figuren sind.

Wo die Level in früheren „Super Mario“-Spielen gründlichst geplant und sogar auf Millimeterpapier gezeichnet wurden, gab es bei „Super Mario 64“ keine Blaupausen, sondern nur grobe Ideen und allenfalls Konzeptzeichnungen im Vorfeld. Ideen für neue Level besprach Miyamoto mit dem leitenden Leveldesigner Yoichi Yamada, woraufhin dieser mit seinen Leuten die entsprechende Welt unmittelbar in der Entwicklungssoftware zum Leben erweckte. „Es war fast so, wie ein Diorama aus Ton zu formen“, beschrieb Miyamoto dieses für ihn neuartige Vorgehen. Die Grundkonzepte der Level wurden nämlich ausgebaut; Bob-Ombs Bombenberg etwa, die erste für das Spiel entworfene Welt, verfügte ursprünglich nicht über eine Schlucht, sondern über einen Fluss und hatte einen strenger vorgegebenen Pfad.

Erst das Wo, dann das Was

Dass die Level von „Super Mario 64“ so sehr ins kulturelle Gedächtnis der Spieleszene eingegangen sind, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie allem Anschein nach primär der ungebändigten Begeisterung des Entwicklerteams für die Möglichkeiten der neuen 3D-Ära entsprangen – vielleicht liegt ja auch gerade darin ihr Geheimnis, der Grund für die ihnen häufig attestierte Magie. So erzählte Miyamoto in einem Interview mit Spielehistoriker Steven L. Kent: „Wir wollten einen Schneeberg machen, einen richtig großen. Das kam zuerst, und erst im Anschluss fragten wir nach Ideen, wie wir diesen Berg nutzen können. Es war, als bauten wir einen Vergnügungspark. Als erstes fanden wir unseren Ort, kauften den Berg, und erst dann dachten wir uns einige interessante Dinge aus, die wir auf dem Berg einbinden wollten.“

Nicht nur die dahinterstehende Philosophie, auch die konkrete Ausgestaltung der Herausforderungen unterschied sich stark von der Herangehensweise bei den früheren Serienteilen. Auf pixelpräzises Platforming wie in einem 2D-Spiel mussten die Entwickler verzichten. Um den Spielenden entgegenzukommen, wurden deutlich tolerantere, ja ungenauere Sprung- und Laufherausforderungen entworfen. Diese Entscheidung fiel jedoch erst in einem fortgeschritteneren Entwicklungsstadium und stieß – vermutlich aufgrund der dadurch erforderlichen Umgestaltung früherer Levelentwürfe – bei den Teammitgliedern zunächst auf eher wenig Gegenliebe.

Dieses Foto wird oft im Zusammenhang mit dem interaktiven Titelbildschirm von „Super Mario 64“ gezeigt. Tatsächlich stammt es aber bereits von 1992 und gehört eigentlich zum „Mario in Real Time“-System.

Von Angesicht zu Angesicht

Was Spielerinnen und Spieler in „Super Mario 64“ als erstes zu Gesicht bekommen, sind aber weder die Spielwelten noch Peachs Schlossgarten – ein brillant gestaltetes, unaufdringliches Tutorial –, sondern das ist der Titelbildschirm mit dem interaktiven Mario-Gesicht. Dieser geht zurück auf ein Experiment des nun schon mehrfach zitierten Programmierers Giles Goddard. Als Miyamoto dieses eines Tages zufällig sah, wollte er es sofort in sein Projekt integrieren. Nicht nur vermochte die Echtzeit-Manipulation eines detaillierten Polygonmodells, wie übrigens auch der Welleneffekt etwa bei den Gemälden in Peachs Schloss, die Leistungsfähigkeit des N64 unter Beweis zu stellen; dies verlieh auch einem traditionell unspektakulären Bestandteil eines jeden Videospiels einen gewissen einzigartigen Interaktivitäts- und Spaßfaktor.

„Es war eines der ersten Spiele, das einen herumspielen ließ, bevor man überhaupt gestartet hatte“, freute sich Goddard. Mit der Technologie hatte Miyamoto damals große Pläne: Er wollte sie für einen 3D-Nachfolger der SNES-Kreativsoftware „Mario Paint“ verwenden. Letztlich kam ein solcher jedoch nie auf den Markt.


Aus den Entwicklerinterviews, die unserer Reportage zugrunde liegen, lässt sich eine große Begeisterung für das Neue der anbrechenden 3D-Videospiel-Ära herauslesen. Sicher gehen wir nicht fehl in der Annahme, dass das Team diese Begeisterung auch schnellstmöglich an Spielerinnen und Spieler auf der ganzen Welt vermitteln wollte. Natürlich hatte auch Nintendo großes Interesse an einer raschen Fertigstellung von „Super Mario 64“, schließlich hing Wohl und Wehe des N64 von diesem Spiel ab. So wurde die Konsole auch zusammen mit dem Vorzeigespiel im November 1995 auf der Shoshinkai-Messe angekündigt. Damit wird es im dritten Teil weitergehen.

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Bisher gibt es einen Kommentar

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  • Avatar von Claw
    Claw 05.11.2021, 06:59
    Auch hier vielen Dank für den interessanten Artikel, einiges dabei, das mit noch nicht bekannt war.