„Digimon Survive“ hatte wirklich keine leichte Zeit bis zum Release. Wo zur Ankündigung von Bandai Namco 2018 noch viele Fans der Digiwelt voller Vorfreude auf den Titel schauten, waren die Stimmen nach den ersten Trailern sehr mit Zweifeln durchsetzt. Viele Fans schienen nicht mit der Umsetzung im Visual Novel-Format einverstanden zu sein und auch Bandai Namco selbst beschenkte das Spiel mit zu wenig Marketing-Liebe zur Veröffentlichung. So gab es weder Testmuster vor Release noch konnte man sicherstellen, genügend physische Versionen in den verschiedenen Märkten anzubieten. Der zeitgleiche Release mit dem durchaus bekannteren „Xenoblade Chronicles 3“ war letztlich nur die Kirsche auf der lieblos geplanten Release-Torte. Warum aber gerade wegen der Neuausrichtung „Digimon Survive“ deutlich mehr Liebe verdient hat, soll dieser Test zeigen.
Die düstere Version der Geschichte
Schon immer waren die „Digimon"-Spiele mit finsteren Momenten gespickt, gerade im Vergleich zu anderen Abenteuern mit ähnlicher Prämisse. Die „Digimon World“-Spiele behandelten den Tod der Digimon-Partner und auch in „Digimon Story: Cyber Sleuth" gab es Nebenmissionen, die den Spielenden ein Schaudern über den Rücken jagten. Dennoch setzt „Digimon Survive“ hier neue Maßstäbe. Jeder der potentiellen Begleiter, egal ob menschlich oder Digimon, steht jederzeit auf der Abschussliste. Stets muss jede und jeder Einzelne davor bewahrt werden, den Verstand zu verlieren in dieser düsteren und gefährlichen Spielwelt.
Ein weiterer Fakt, dessen sich Spielende bewusst sein müssen, ist, dass es sich hierbei größtenteils um eine Visual Novel handelt. Sogar um eine mit weder deutscher noch englischer Sprachausgabe, dafür aber mir frei wählbaren Text-Sprachen. Wer die Trailer des Spiels gesehen hat, kann bei den Worten von Producer Kazumasa Habu nur zustimmend nicken, denn das Spiel ist mindestens 70% Visual Novel und etwa 30% taktisches Rollenspiel. Man kann zwar beide Grenzen noch etwas verschieben, dennoch sollte man sich auf einen sehr starken Story-Fokus einstellen, was eine der größten Stärken von „Digimon Survive“ ist und Fans von Visual Novels zu einem Spiel voller Hochgenuss einlädt. Als jemand der bisher zu anderen Genres als Visual Novels gegriffen hat, hat mich einzig der Fakt eines neuen „Digimon"-Spiels zum Kauf ermutigt. Und dieser Mut hat sich gelohnt! So durfte ich nicht nur eine großartige Story erleben, sondern bin auch den Besonderheiten dieses faszinierenden Genres wesentlich aufgeschlossener.
Großartiger Einstieg im Anime-Stil
Das Spiel startet in einem sonnigen Schul-Camp und stellt uns in einer wunderbar musikalisch untermalten Intro-Sequenz im klassischen Anime-Stil die Protagonisten unserer Geschichte vor. Einen kleinen Spaziergang entlang ein paar Kirschblütenbäumen später haben wir die ersten Gespräche mit unseren Begleitern geführt und einen ersten Eindruck des tollen Grafikstils bekommen. „Digimon Survive“ schafft es, die vielen Gespräche einer Visual Novel mit dynamischen Kamerafahrten in den jeweiligen Szenerien zu begleiten und somit den qualitativ hochwertigen Grafikstil im besten Licht zu präsentieren. Die Entspannung hält dabei nicht lang an, denn wie die treffende Musikuntermalung ankündigt, finden wir uns nach dem Spaziergang an einem dunklen, verlassenen Schrein wieder, der uns kurze Zeit später sprichwörtlich den Boden unter den Füßen wegreißt. Als wir nach einer kurzen Ohnmacht wieder zu uns kommen, wirkt die Umgebung zwar grundsätzlich vertraut, jedoch irgendwie nicht zu dem passend, woran wir uns erinnern. Dann ist es endlich soweit. Der Zeitpunkt auf den alle Käufer des Spiels gewartet haben. Wir treffen Koromon und finden uns lächelnd vor dem Bildschirm wieder, während unser Hauptcharakter beschließt, mit seinem neuen Verbündeten die Welt um ihn herum zu erkunden und herauszufinden, was hier überhaupt los ist.
Nachdem wir die meisten unserer vorherigen Begleiter wiedergefunden haben, machen wir uns zurück zum Ausgangspunkt unserer Reise, dem Schul-Camp, um die nächsten Schritte zu besprechen. Erschrocken stellen wir fest, dass das zuvor noch belebte Schulgebäude nicht mehr so lebhaft wirkt wie wir es uns in Erinnerung rufen. Zerbrochene Fenster und verwitterte Holzwände werfen mit einem von der Natur zurückeroberten Gebäude ein fragwürdiges Bild auf unsere Zurechnungsfähigkeit. Wie lange waren wir weg? Was ist während unserer Ohnmacht passiert und wieso wirkt alles gleichzeitig vertraut und dennoch ungewohnt? Von hier beginnt eine der spannendsten und gleichzeitig dunkelsten Geschichten, die ich persönlich im „Digimon"-Universum bisher erleben durfte. Die umfangreiche Charakterentwicklung, die Erkenntnis wie unsere Begleiter langsam dem Wahnsinn anheimfallen und wie gleichzeitig die Bande zwischen Digimon und ihren Partnern heranwachsen. All das zeichnet die einzigartige Geschichte, die Spielende in „Digimon Survive“ erwartet. Bleibt also die Frage, wieso der Professor dem wir auf dem Weg zum Schrein begegnen eigentlich ständig von Kemonogami spricht, wo wir die uns erwartenden Wesen doch eigentlich als Digimon kennen? Findet es heraus, ihr werdet nicht enttäuscht sein.
Unterschiedliche Pfade
Ein Großteil des Spiels besteht neben dem Begleiten unserer Charaktere darin, Entscheidungen zu treffen. Grundsätzlich lassen sich diese in drei Karma-Ausrichtungen einteilen, die auch als Attribute unseren Charakter widerspiegeln. Wir steigern unser moralisches Karma, indem wir unsere Entscheidungen an Opferbereitschaft und Gerechtigkeit orientieren. Wer das Harmonie-Karma erhöhen möchte, tut dies durch friedliche und mitfühlende Entscheidungen. Das Zorn-Karma erhöht sich durch direkte und mutige Gesprächsentscheidungen. Teilweise werden die Gesprächsoptionen auch in der entsprechenden Farbe des Karma-Attributs (gelb, grün oder rot) markiert um die Orientierung zu erleichtern. Auch wenn sich nicht von jeder Entscheidung direkte Folgen ableiten lassen, beeinflussen alle Entscheidungen, wie sich unsere Digimon entwickeln und welches Ende wir schließlich erleben dürfen.
Auch wenn wir uns bei manchen Entscheidungen fragen, ob die geschriebenen Worte zu der von uns erwarteten Entscheidung passen, schafft es das Spiel stets, dem Spielenden neue Denkweisen zu offenbaren und so selbst offensichtliche Entscheidungen mit einer Überraschung zu versehen. Die Option jederzeit zu speichern bietet mit den kurzen Ladezeiten für Spielstände auch eine perfekte Kombination, verschiedene Optionen zu testen.
Gelungene Abwechslung in den Kämpfen
Neben dem fundamentalen Aspekt einer Visual Novel bietet „Digimon Survive“ auch taktische Rundenkämpfe, die sich grundsätzlich an den Kämpfen von „Fire Emblem“ oder auch „Triangle Strategy“ orientieren. Neben den durch die Story vorgegebenen Kämpfen bietet sich in Erkundungsphasen auch stets die Möglichkeit, freie Kämpfe auszutragen. Das Kampfsystem ist zwar nicht so tiefgründig wie in den benannten Vorbildern, bietet aber dennoch genug Vielfältigkeit. Neben dem Einsatz verschiedener Entwicklungsmöglichkeiten und dem schlichten Aufleveln unserer Partner können wir in den Kämpfen auch weitere Digimon rekrutieren.
Dazu gilt es in Gesprächen die verschiedenen Charakterzüge der Feinde zu analysieren und passende Antworten zu geben, welche die Gegner dann überzeugen das Team zu begleiten. Mit verschiedenen Items lassen sich dann typische Heilungen in den Kämpfen durchführen oder dauerhafte Entwicklungen für die neuen Partner durchführen. In jedem Falle kann genauso viel Zeit in den freien Kämpfen verbracht werden wie gewünscht, so dass diese eine gelungene Abwechslung zu den Story-Abschnitten bieten. Einzig die knapp 30 Sekunden langen Ladezeiten der Switch während man in das Kampfgeschehen lädt, fallen etwas negativ auf. Wer allerdings rein die Story genießen möchte, hat sogar die Option, den Schwierigkeitsgrad so weit zu senken, dass man mittels der Option der automatischen Kämpfe diese ohne jedes Zutun abschließen kann. Auf diesem Wege kann jeder das Spielgeschehen so gestalten, wie es den eigenen Vorstellungen entspricht.
Beeindruckende Präsentation
Wie bereits erwähnt, ist es unmöglich direkt zu Beginn über den eindrucksvollen Grafikstil hinwegzusehen. Ob die emotionalen Gesichtsausdrücke der Charaktere, das intensive Rot der Spinnenlilien oder die düster gestalteten nebeligen Schauplätze. All das wirkt überzeugend und wirko direkt auf das atmosphärische Erlebnis ein, welches Spielende in der unbekannten Welt erwartet. Wer „Digimon Survive“ dazu noch auf dem OLED-Screen der Switch erlebt, kann all das noch intensiver wahrnehmen.
Während wir noch über die Grafik staunen, hören wir dem wunderbar durchdachten Soundtrack des Spiels zu. Ob wir den leichten und fröhlichen Klängen in positiven Momenten lauschen oder den düsteren Klängen in den tragischen Momenten, jederzeit untermalen die Klänge die aktuelle Atmosphäre. Selbst in zunächst unscheinbaren Augenblicken, wie auf der Übersichtskarte während Erkundungen, wirkt jeder Sound gut durchdacht und zieht uns genauso in den Bann wie zum Start des Spiels im Hauptmenü, den wir am liebsten gar nicht wegdrücken möchten.
Inspiration und zeitgemäße Weiterentwicklung
Auch wenn viel Liebe in die Gestaltung der Charakter-Beziehungen gelegt wurde, wie wir sie auch aus vielen anderen Spielereihen kennen, hätten wir uns hier gewünscht individueller in die Gespräche gehen zu können und weitere Gesprächsthemen selbst zu wählen, über die wir reden können. Auch die Welt selbst mit den eigenen Begleitern zu erkunden, hätte dem Spiel zu einer noch besseren Immersion verholfen. Dennoch ist die Welt der Digimon mit „Digimon Survive“ vorzeigbar herangewachsen. Fans die mit den knuddeligen Wesen in ihrer Kindheit in Berührung gekommen sind, werden diesen neuen erwachseneren Ansatz sehr zu schätzen wissen und ein tolles Erlebnis haben, selbst ohne ein großer Fan von Visual Novels zu sein.
Bisher gibt es neun Kommentare
Muss nur schauen, wann ich Zeit dafür finde.
Ich habe die letzten Tage echt Lust bekommen das Spiel zu spielen.